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Die Eifel sehen und sterben - 23 kriminell kurze Geschichten

Die Eifel sehen und sterben - 23 kriminell kurze Geschichten

Titel: Die Eifel sehen und sterben - 23 kriminell kurze Geschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carola Clasen
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deklamierte lauthals mit einem beeindruckenden Tenor über die Dächer von Norden ein Gedicht. Es kam ziemlich viel Mond darin vor. Dann drehten Erich und die Auflaufform eine Runde über die Dachterrasse, immer haarscharf am Geländer entlang, kehrten an die gleiche Stelle zurück. Noch ein Gedicht. Noch eine Runde.
    Abschließend rief er dem Mond noch etwas Ungereimtes zu. Originalton Erich ging in etwa so: »Wenn du – o Mond – in der Lage bist, riesige Ozeane zu bewegen, dann wirst du es auch schaffen, das bisschen Flüssigkeit in dieser Auflaufform zu bewegen und ... !«
    Er unterbrach sich, kam zu mir, stellte die Auflaufform auf den Tisch, zog die Handschuhe aus und sagte in gewohnter Tonlage: »Guten Appetit.«
    »Was war das denn?«, fragte ich verwirrt.
    »Was denn?«
    Er konnte sich an nichts erinnern. Angeblich hatte er das glühend heiße Essen direkt von der Küche an den Tisch gebracht. Entsetzt starrte ich auf eine graubraune, zerfallene, undefinierbare Masse. Eine Ahnung beschlich mich. »Was soll das sein?«
    »Kohlpudding.«
    Ich habe etwas gegen Kohl. In jeder Form. Egal, wie liebevoll er zubereitet ist, ich finde ihn schrecklich. Er bläht und gärt im Inneren. Er hinterlässt einen Geschmack nach verbrannter Erde. Nach Tod. Er ist einfach eine Zumutung. Ich habe ihn ewig nicht gegessen, ich bin ihm aus dem Weg gegangen, jetzt, da ich ihn wiedersehe, weiß ich, warum. Und Erich wusste, was ich für Kohl empfinde, wir hatten darüber gesprochen. Er nahm Rücksicht darauf. Bis heute. Ich rührte das Besteck nicht an. Ich verweigerte mich.
    »Iss!«, forderte er mich auf und grinste.
    Vehement schüttelte ich den Kopf.
    »Mir zuliebe!«, sagte er.
    Das war Erpressung. Für ein Kohlgericht warf er unsere Freundschaft aufs Spielbrett wie einen Würfel. So einer war er.
    Tapfer führte ich die Gabel, auf deren Spitze sich nicht mehr als ein halbes Gramm Kohlpudding befand, zum Mund. Ich versuchte zu schlucken, ohne zu schmecken, während ich mir eine Ausrede überlegte. Ein vergessener Termin, ein Anruf, eine plötzlich aufsteigende Übelkeit. Aber es kam anders.
    Zu meinem großen Erstaunen schmeckte der Kohlpudding. Und zwar nicht einmal schlecht. Er wird nie mein Leibgericht werden, aber es geht. Eher in Richtung Fenchel. Oder Spargel. Mit einem Hauch von Koriander und Sahne. Oder war es Safran? Ingwer? Honig? Ich habe keine Ahnung. Es hatte keinen Zweck, Erich nach dem Rezept zu fragen, er kochte immer freihändig.
    Ich aß und schwieg und dachte nach und kam zu dem Schluss, dass der Vollmond das Kohlgericht verzaubert haben musste. Erich hatte recht, wer sich nicht scheut, Sturmfluten und andere Katastrophen zu erzeugen, in denen Menschen und Tiere und Schiffe untergehen, der wird auch nicht davor zurückschrecken, sich an einem Kohlgericht für zwei Personen zu vergreifen. Anders war die Metamorphose nicht zu erklären. Es war der Mond. Definitiv. Ich behielt die Theorie für mich und malte mir lieber aus, welche herrlichen Gerichte Erich in Zukunft in jeder Vollmondnacht kochen würde.
    Aber die Vollmondnächte blieben für den Kohlpudding reserviert. 108 Kohlpuddinge und immer die gleiche Zeremonie sollten auf diese erste Vollmondnacht folgen. Auch im Winter, wenn wir nach der Zeremonie in der Küche aßen. Im Lauf der Jahre fand ich heraus, dass es sich bei den Gedichten um Heinrich Heines »Süßer Mond« und Theodor Storms »Mondlicht« handelte, die Erich im Normalzustand nicht zu kennen vorgab.
    Ich reibe mir die Schläfen, aber ich bekomme den Anblick einfach nicht aus dem Kopf.
    Wie er eben – die Keramik-Auflaufform mit der heißen Masse in beiden Händen – die defekte Stelle des Eisengitters durchbrach. Wie sein Körper trudelte und sich überschlug. Wie seine Strickjacke sich aufblähte, wie er einen seiner Schuhe verlor, seine weite Leinenhose flatterte, seine dünnen Haare sich auffächerten wie zu einem Heiligenschein. Wie er die Auflaufform verlor, sie ihn überholte, er sie kurz vor der Landung einholte, sodass sie zeitgleich aufkamen. Erich und der Kohlpudding.
    Noch haben sie nicht gegen seine Tür gehämmert. Ich verschwinde in meine eigene Wohnung. Ich dusche kurz und ohne Shampoo, trockne mich nicht ab, werfe meinen weißen Bademantel über, schlage den Gürtel lose um, tappe mit nassen Füßen und tropfend aus den Haaren und allen Poren wieder hinaus auf meinen handtuchgroßen Balkon, lehne mich über die Brüstung. Unten läuft das volle Programm. Krankenwagen und

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