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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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zitternd auf seinem Thron sitzt, schwitzend vor Ehrfurcht, erschüttert von der Offenbarung des Göttlichen!
    »Sie gab mir meine Augen!« rief Timothy – und jetzt hörte Julie zum erstenmal den Schmerz in dieser Stimme, spürte seine Verzweiflung. »Der Antichrist gab mir Augen! Satans Augen will ich nicht tragen! Wenn dein rechtes Auge dich ärgert, dann reiß es aus! Aus! Aus! Aus!«
    Was er auch tat.
    Einfach so. Riß es. Aus.
    Julie schrie auf. Alles geschah in einem Augenblick: der verrückte Timothy grapschte sich Urpastor Martins silbernen Kaffeelöffel, und mit der beiläufigen Nonchalance des Gourmets beim Schälen einer Grapefruit, mit der methodischen Tüchtigkeit eines Mechanikers, der den Reifen vom Rad abzieht, entäugte er sich. Klang, wie wenn einer mit dem Daumen über einen aufgeblasenen Luftballon fährt. Blut spritzte aus dem gezackten Loch. Das ausgemeißelte Organ rollte vom Löffel und klebte wie ein vorwitziger vom Teller gesprungener Rosenkohlsproß am Boden.
    Weil dieser monströse Vorgang so vollständig abgeschlossen schien, konnte man Timothys erstarrter Begleiterschar nicht einmal einen Vorwurf machen. Denn sie dachten, weiter würde er nicht gehen. Hätten sie gemerkt, daß er noch nicht fertig war, dann wären sie zweifellos über ihn hergefallen und hätten ihm den Löffel entrissen. So aber starrten ihn die Kleriker nur in ungläubigem Staunen an, als er sich dem anderen Auge widmete, schritten erst ein, als es schon wie ein Osterei frisch aus dem roten Farbtopf auf dem Löffel lag.
    »Und wenn dich dein linkes Auge ärgert« – er kreischte in furchtbarer Agonie, Blut schoß ihm aus den Augenhöhlen –, »dann reiß es auch aus!«
    »Timothy! Timothy! Neiiiiin!!« Billy Milk stürzte nach vorn. »So helft ihm doch! Neiiin!«
    »Wärter!«
    »Helft ihm!«
    »Packt sie!«
    »Umdrehen!«
    »Nein, liegenlassen!«
    »Wärter!«
    »So sucht doch die Augen! Neiiiin!«
    »Bringt sie raus!«
    »So sucht doch die Augen, man kann sie wieder einsetzen! Neiiiin!«
    »Raus!«
    »Sucht die Augen!«
    Betäubt folgte Julie Oliver Horrocks aus dem Gerichtssaal zurück zur Parousia Plaza. Aber für ihre zerrüttete Seele war dies nicht die Plaza, sondern Andrew Wyverns Magen, der sie verdaute, mit seinen Exkrementen mischte und fortspülte. Wenn sie auch diesmal an der kosmischen Kloake nicht als königliche Besucherin ankam, nicht als Satans Gast, hießen doch die Teufel und Dämonen ihre alte Freundin Julie Katz, vormals göttliches, nun verdammtes menschliches Wesen, als jüngste Bürgerin der Hölle willkommen.

 
17. Kapitel
     
    Der Herr der Unterwelt kann nicht bei Schönwetter nach New Jersey zurückkehren. Auch die Hölle hat protokollarische Regeln. Als die Pain den Raisley-Kanal hinauffährt, ordert er ein Unwetter – »Regen, Anthrax! Sag ihnen, ich will Regen!« –, und bald scheiden die Engel gießbachartige Wasserfluten aus. Der Teufel legt den Kopf in den Nacken und öffnet seinen Rachen. Das feine Gebräu kitzelt auf der Zunge.
    Langsam wandelt er sich, nimmt freundlichere Gestalt an. Die Hörner ziehen sich zurück, der Schwanz verschwindet zwischen den Hinterbacken, die gespaltenen Hufe werden zu Füßen und der Geruch, normalerweise an einen gestrandeten Wal erinnernd, wird fruchtig, leicht erotisch. Er geht die Laufplanke hinunter, in der Hand die Reisetasche aus Kätzchenhaut. Den Schädel schmückt er mit goldenen Locken, bedeckt seine geäderten, ledrigen Schwingen mit überlappenden Schichten wasserdichter Federn. Er springt auf den sturmgepeitschten Sand von Dune Island. Wie ein seidener Lavastrom fällt nun eine leuchtende Robe von seinen Schultern. Und als er schließlich auf der Salzmarsch ankommt, entspricht sein Aussehen völlig der Rolle, die er jetzt zu spielen hat. Er sieht aus wie Billy Milks Vorstellung von einem Engel.
    Aber diese List ist mit Schmerz verbunden. Wyvern läßt sich nach Atem ringend auf einem glitschigen Baumstumpf nieder und starrt trübsinnig auf den Sumpf. Ein unerträglicher Krampf im Hirn, als ob Gott ihm den Schädel zerbrechen und Omelett aus seinen Gedanken machen wollte. Diese lausige Hure. Mit ihren wirklichen Händen hält sie die Freischärler auf, rettet ihre Freundin, serviert Suppe. Und mit ihrer High-Tech-Geisterhand wärmt sie das farbige Baby. Hure!
    Er zwingt sich zur Konzentration auf das unmittelbar Nötige: Die Geschichte ist gegen ihn. Von allen Wesenheiten im Kosmos ist Billy Milk sicher der letzte, auf den irgendwer

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