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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Publikum…«
    »Ach, das Publikum – sie würden eine Kreuzigung nicht besonders schätzen, nicht wahr? Eine Kreuzigung würde gar nicht gut ankommen.«
    Billys Lippen teilten sich zum breitesten Lächeln, seit Timothy wieder Augen bekommen hatte. Wunderbar, in solcher Verbindung zum Himmel zu stehen. Billy nickte. »Nur der Erlöser ist es wert, gekreuzigt zu werden«, sagte er.
    »Das ist auch der Grund, warum sie anti-gekreuzigt wird«, sagte der Engel. »Eine Anti-Kreuzigung für den Antichrist.«
    »Anti-Kreuzigung? Also – wie im Gegensatz zur Kreuzigung?«
    »Du hast es erfaßt.«
    »Was ist der Unterschied?« fragte Billy.
    »Der Unterschied ist der, daß du das eine Kreuzigung nennst«, entgegnete der Engel, »und das andere Anti-Kreuzigung.«
     
    Eine Anti-Kreuzigung für einen Antichrist, dachte Julie, als Oliver Horrocks sie durch schwere, zylindrische Tore in den Besuchsraum des Kerkers führte. An der Decke ein Durcheinander von Flutlichtlampen und Fernsehkameras, deren Objektive wie Opossumschnauzen in den Raum ragten. Eine Anti-Kreuzigung für eine Antichristin, oder so ähnlich hatte sie das Gerücht von ihrem Wärter gehört. Ihre Feinde besannen sich auf die Wurzeln; morgen würde man sie vor der ganzen Stadt annageln und sterben lassen. Annageln, nicht verbrennen. Bestenfalls ein Pyrrhussieg, raus aus der Bratpfanne und ans Kreuz.
    Die Flutlichter gingen alle gleichzeitig an und tauchten den Besuchsraum in milchiges Licht; ließen vergessen, daß es draußen schon spätabends war, noch Samstagabend nach heidnischer Zeitrechnung, schon Sonntag nach jüdischer. An der linken Wand standen sieben schmallippige schwerbewaffnete Korporale in Habachtstellung. Horrocks führte sie zur Mitte des Raumes, und Julie faltete ihre reale linke Hand in die Phantomhand und betete zu niemand Speziellem, daß die nächsten zwanzig Minuten gut vorübergehen mochten; keine Unbeholfenheit, keine peinlichen Sentimentalitäten.
    Auf der anderen Seite öffneten und schlossen sich miteinander verbundene Zellentüren wie Schleusentore. Ihr Mann trat ein. Dahinter Phoebe, die ein dürres, schlafendes terracottafarbenes Bündel wiegte. Offensichtlich erfüllte Milk ihren letzten Wunsch. Einen Kuß vor dem Tod. Eine Umarmung vor dem Abstieg zur Hölle.
    »Wir versuchen wirklich jede verdammte Möglichkeit, die uns einfällt«, sagte Bix und watschelte unsicher auf sie zu, eine flache Pappschachtel mit der Aufschrift Pentecost Pizzas auf den Händen balancierend. »Wir hängen dauernd am Telefon, auch Irene. Wir haben sogar eine Liste – einen Haufen Regierungsleute, unsere beiden Senatoren, einen pensionierten Botschafter hab ich in Bryn Mawr aufgetrieben, Eimer West vom CIA…« Sein gestreifter Pyjama war mehrere Nummern zu klein. Zwischen den Knöpfen quoll das bleiche Fleisch heraus. Was für ein irrer Paranoiker mußte Billy Milk sein, dachte Julie: nahm ihnen die normale Kleidung weg, sie hätten ja vielleicht Zyankali ins Futter einnähen können. »Die Sache ist die«, sagte Bix, »weil Jersey so antimarxistisch ist und überhaupt die einzige Geburtsurkunde von dir in Trenton ist…« Seine Augen waren rot. Auf den Wangen hatte er Tränen wie getrocknete Schneckenspuren. »Nun, wir haben noch keine Unterstützung.«
    »Ich hab nicht erwartet, daß du mich rettest, Bix. Wirklich nicht. Ich war für den Zirkus bestimmt – schon immer.«
    »Hey, die Arschlöcher haben dir die Hand gestohlen!« heulte Phoebe mit lauter, eisiger, empörter Stimme. Ihr Pyjama-Oberteil stand offen, sie trug einen Stillbüstenhalter.
    »Nein, ich hab sie den Chaudrys gegeben.«
    »Du bist ein guter Mensch, Julie Katz.« Phoebe fuhr mit der Hand durch Klein-Murrays Haar, ein dichter Schopf schwarzer Locken. Seine Augen waren weit offen, dunkelbraune Pupillen in einer Iris von reinem Weiß. »Er schläft die Nacht durch«, sagte sie. »Gute Veranlagung. Ich würd ihn in den Delaware schmeißen, wenn du dadurch leben könntest.«
    »Das meinst du nicht wirklich«, sagte Julie.
    »Das mein ich nicht wirklich. O Katz, Honey…«
    »Noch 18 Minuten«, sagte Horrocks.
    »Willst du ihn halten?« fragte Phoebe.
    »Ich laß ihn vielleicht fallen.« Ihr Bruder schien klug und wohlwollend, durch und durch Papas Kind. Nachdenkliches Erstaunen stand in seinen Gesicht, als sei er auf dem falschen Planeten angekommen und überlege nun, ob er bleiben soll oder nicht. »Ist er beschnitten?«
    »Natürlich ist er beschnitten. Sein Vater hätte das auch

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