Die eingeborene Tochter
Schattenspiels zuckten über die Oberfläche. Dann bekamen die Gestalten Fleisch, Gesichter, Kleider – Tiefe. Billy erkannte sich selbst, wie er in der Mitte des Amphitheaters stand und Sheilas Hinrichtung aufhob.
»Ja«, sagte er zum Engel, »das hab ich vor.«
Plötzlich aber erhoben sich die Gläubigen von den Sitzen, stürmten in die Arena und fielen über ihn her. »Du mußt ihnen ihren Antichrist geben«, erklärte der Engel. »Sonst reißen sie dich nämlich in Stücke.« Er warf die Angelleine aus. »Der Himmel kann es sich nicht leisten, dich zu verlieren, Billy Milk. Du warst ein treuer und gläubiger Hirte, und wir wissen, daß dir noch ein paar weitere Städte bestimmt sind. Zeit, international zu werden, Billy. Überleg nur, wie gottlos Teheran geworden ist. Tripolis schreit nach der Brandfackel, auch Moskau ist reif für das Feuer.«
Billy verströmte Erleichterung wie jene Flüssigkeiten, mit denen er die große Hure getauft hatte – höchste aller Freuden, sein Kampf gegen Babylon, der hienieden so umstritten war, hatte die Billigung des Himmels!
»Was muß ich also tun?«
Der Engel holte aus dem, Kasten für das Angelzeug einen Stapel Computerpapier. »Das Drehbuch für Sheilas Hinrichtung«, sagte er und drückte Billy den Packen in die Hand. »Ich hab es selbst geschrieben. Du wirst die Frau nicht verbrennen, sondern mit Tetradotoxin betäuben. Mit Zombiesaft.« Der Engel langte in seine Robe, zog ein grünes Glasfläschchen mit Sheilas Gesicht drauf heraus und stellte es am Boden ab. »Sie wird dort in der Arena einfach einschlafen. Die Menge wird glauben, sie ist tot. Keine Sorge, die Lebensvorgänge werden nur kurzzeitig aufgehoben. Nachher kannst du sie… irgendwem übergeben. Ihrem Ehemann. Sie wird aufwachen. Quicklebendig. Auch deine Todsünde – Billy Milk, Verfolger der Unschuld – wird so für immer getilgt.«
»Getilgt? Vollständig getilgt?« Billys Herz hüpfte vor Begeisterung.
»Deine Seele wird so rein sein wie dieser Kanal.«
»Aber ist sie wirklich…« – Billy schaute auf die erste Seite des Drehbuchs: Ein Heuwagen rollt auf das Feld, las er, von einem Esel gezogen –, »… ich meine… ist sie wirklich – göttlich?«
»Schwer zu sagen. Zweifelhaft. Ah – da beißt einer.« Der Engel drehte die Haspel, zog bald einen großen leuchtenden Seestern aus dem Fluß. Der versuchte, sich vom Haken loszumachen, heiliges Wasser spritzte von seinem halben Dutzend herumwirbelnder Arme. »Manche Leute sind der Ansicht, Julie Katz ist tatsächlich ein göttliches Wesen.«
Sechs Arme, dachte Billy, ein sechsstrahliger Stern: ein jüdischer Seestern.
»Dann noch was: Bis zur Hinrichtung sollten wir so großzügig sein wie möglich, nicht wahr? Sollten sie wie Gottes eingeborene Tochter behandeln. Ihre letzten Wünsche erfüllen.«
»In einem gewissen Rahmen natürlich«, sagte der Engel und warf den Seestern aufs grasbewachsene Ufer. »Erlaube ihrer besten Freundin, sie zu besuchen. Das ist eine gewisse Sparks.«
»Und ihr Ehemann?«
»Ja, aber laß niemanden in seiner Vergangenheit herumstochern. Er war nämlich Unbestimmtheitler – hat es sogar gepredigt. Schauerliches Zeug.«
Billy schnappte sich das Tetradotoxin-Fläschchen. Ein von Gott selbst ersonnener Plan war das, ein Drehbuch, geschrieben von einem Engel! Und doch… »Wir werden sie also betäuben.«
»Richtig.«
»Die glauben, sie ist tot.«
»Du hast es erfaßt.«
»Aufgehobene Lebensfunktionen.«
»Genau.«
»Schön. Gut. Nur…«
»Nur – wo bleibt das Drama?« sagte der Engel. »Wo bleibt das Schauspiel? Verlaß dich auf mich. Mein Buch ist hochdramatisch. Da kommen Nägel vor. Nägel und Holz. Hast du vielleicht schon in der Bibel gelesen. Matthäus 27, 48 ›Und alsbald lief einer von ihnen, nahm einen Schwamm und füllte ihn mit Essig‹« – der Engel legte seine weiche weiße Hand auf das Drehbuch – »›und steckte ihn auf ein Rohr…‹«
»›Und tränkte ihn‹«, sagte Billy.
»Ganz ähnlich wird dein Henker Sheila einen mit Tetradotoxin getränkten Schwamm geben.«
»Du meinst, sie muß…?«
»Gekreuzigt werden«, sagte der Engel.
Gekreuzigt? fragte sich Billy. Gekreuzigt? Seine Herde würde eine Kreuzigung niemals hinnehmen, die allerheiligste der Züchtigungen – nicht bei einer Frau, die sie für Satans Hure hielten. »Gekreuzigt. Ja, aber…«
»Keine Sorge, der Mann hat jede Menge Zeit, ihr das Zeug zu verabreichen. So eine Kreuzigung dauert Stunden.«
»Aber das
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