Die eingeborene Tochter
als Julies Retter gesetzt hätte. Und doch ist es so. Nur ein Geschöpf des Himmels konnte meinen Sohn sehend machen, lautet die Begründung des Großpastors, soweit Wyvern sondieren konnte. Ergo ist sie nicht der Antichrist. Und deshalb hat Billy bestimmt, sie freizulassen. Gipfel der Ironie. Wahr ist es schon zu Galileis Zeiten; wahr bleibt es heute: der Christenheit ist einfach nicht zu trauen.
Aber der Teufel hat einen Plan. Er hat immer einen Plan. Ein Schwamm, ein Karussell, eine Ampulle voll Gift. Gackernd öffnet er die Reisetasche, schützt die Mappe und seinen Laptop-Computer vor dem stürmischen Regen und zieht eine kleine, grüne Flasche aus stoßfestem Glas heraus, vorn drauf Julies Foto aus dem Moon. Er will den Inhalt überprüfen, zieht den Stöpsel und läßt ein einziges dunkles Klümpchen, nicht größer als eine Rosine, in das salzige Wasser fallen. Wenn er dann mit Milk spricht, wird er das Gift natürlich nicht beim Namen nennen. Er wird es nicht Conium maculatum nennen, Gift des Verderbens, Teufelsschierling. Er wird ganz einfach lügen – und behaupten, es sei Tetradotoxin, Zombiesaft.
Die Marsch nimmt das Gift auf, beginnt zu strudeln und zu kochen. Die Grashalme werden schwarz wie alte Lampendochte. Medusen und Quallen nur noch ein einziger Haufen Fäulnis. Mit einem Wort, das Zeug wirkt.
Zum Wohl, Julie Katz. Ex, mein Kind. Nimm den Schwamm aus Matthäus 27,48 an deine vollen Lippen und trinke, Sheila of the Moon.
Tausende von Seenadeln, Großaugenheringen, Tintenfischen, Shrimps und Einsiedlerkrebsen treiben an die Oberfläche und bilden einen dicken Leichenteppich auf dem Wasser, während der Teufel all seine Kräfte, seine ganze Affinität für dramatische Spektakel konzentriert, seinen Laptop herausholt und anfängt, das Drehbuch für den Tod seiner Feindin zu verfassen.
Der Wurm des Zweifels, welcher Parasit Billy Milks Seele schon so oft bewohnt hatte, war ein bloßes Jucken, verglichen mit dem Widersacher, dem Skorpion der Sicherheit, der ihm seinen mit Widerhaken besetzten Schwanz mitten ins Herz stieß. Mühselig und beladen schlurfte Billy am Teich von Siloam vorbei zum heiligen Kanal.
Sheila: unschuldig.
Sheila: nicht das Tier der Apokalypse.
Die Tatsachen standen handgreiflich und unwiderleglich vor ihm. Der heilige Fluß hatte sie nicht verbrannt. Sein Phantomauge hatte keine Heuschrecken auf ihren Knochen gesehen. Aber vor allem war es einfach das: vor mehr als einem Vierteljahrhundert hatte sie seinen Jungen geheilt. Sicher, auch Satans Jünger bringen Heilungen zustande, aber nicht jenes Wunder, das Billys Leben so viele Jahre erhellt hatte; Heilung retrolentaler Fibroplasie – Augen, wo vorher gar keine Augen waren. Billy liebte Timothy mit ganzem Herzen – den armen, verwirrten Jungen, der mit Gaze umwickeltem Kopf in einem sonnigen Krankenzimmer im New Jerusalem Memorial Hospital saß, aber der Junge hatte unrecht, unrecht. Zauberin, Schamanin, Eingeweihte, Geistheilerin: was immer diese Sheila sein mochte, die Gabe, die sie Timothy an jenem Augusttag im Jahre 1985 verliehen hatte, diese Gabe war von oben gekommen, nicht von unten.
Am Flußufer saß ein geflügelter Mann unter dem Baum des Lebens. Er war am Fischen.
»Hello, Reverend Milk!« Feste, gleichzeitig trällernde Stimme; wie eine Harfe.
»Guten Morgen«, sagte Billy zitternd. Seidenrobe, goldenes Haar, glatte weiße Federn. Also ein…
»Leider beißen sie heute nicht«, sagte der geflügelte Mann.
»Ein Engel?« keuchte Billy. »Bist du ein Engel?«
Das Geschöpf glättete die Federn seines linken Flügels. »Von Kopf bis Fuß. Von der Flügelspitze bis zur Vorhaut.«
»Sie ist unschuldig, nicht wahr?«
Der Engel nickte. »Unschuldig wie die erste Rose des Paradieses«, sagte er. Dann holte er den leeren Haken ein. »In der Gnade Gottes, durch Jesus selbst begünstigt. Und du bist ausersehen, sie zu verbrennen!«
»Nein! Bitte. Ich will nicht.« Ein Engel! Er sprach tatsächlich mit einem Engel! »Ich werde in die Arena gehen. Ich werde sagen: ›Ihr guten Bürger, ich hab den Hinrichtungsbefehl zerrissen! Sheila of the Moon soll nicht brennen – nie und niemals!‹«
»Ein bewundernswertes Vorhaben, Reverend. Ein lobenswerter Plan. Jedoch…« Wie einst Aaron seinen Stab vor Ägyptens Hoheit niederwarf, fuhr der Engel mit der Angelrute über den Kanal. »Wenn du das nämlich wirklich machst…«
Der unruhige Wasser gefror zu Eis, glatt und gläsern wie ein Spiegel. Silhouetten eines
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