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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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zwei Marmorärsche, zwei Rettungsbojen von der Pain, zwei Doughnuts aus gebleichter Hundescheiße.
    Horrocks führte sie durch das Gefangenentor auf den Warteplatz, einen düsteren Granitunterstand mit etwa zwanzig Verbrechern und Ketzern, die sich auf Picknickbänken zusammendrängten. Dahinter öffnete sich der Blick durch ein mit Eisenspitzen bewehrtes Fallgatter auf den Richtplatz, eine Art landumschlossener Strand. Auf den sanft rollenden Dünen lagen da und dort Haufen aus verkohltem Feuerholz. Dazwischen verstreut ein Dutzend Hackstöcke wie Baumstümpfe.
    »Moon rising.« Heitere Stimme, aristokratisches Äußeres.
    »Moon rising«, wiederholte eine andere Gefangene, eine ledrige alte Frau in schlecht sitzendem Pyjama.
    »Niemand ist so blind wie der, der Engel sieht«, spöttelte Julie und ließ ihren neununddreißig Jahre alten Hintern auf die nächste Bank sinken. »Und niemand so taub wie der, der Götter hört«, fügte sie hinzu. Der Abfall hatte ihren Pyjama durchweicht. Sie spürte die Nässe auf der Haut. »Scheiß auf den Moon.«
    »Wenn Sie keine Unbestimmtheitlerin sind, warum sind Sie dann hier?« fragte die alte Frau.
    »Mord?« fragte der aristokratische Häftling. »Ehebruch?«
    »Schlechte Gene«, erwiderte Julie.
    Die Sitze waren alle belegt, Tausende Zuschauer schwenkten Fähnchen, schauten durch Feldstecher, kauften Hot Dogs und studierten Programmzettel. Am hinteren Ende des Richtplatzes erhob sich eine Kolossalstatue des heiligen Johannes des Göttlichen – Beine gespreizt, in der Hand einen Federkiel. Über sich hielt er einen dreißig Fuß großen Bildschirm, und noch weiter oben waren ganze Flutlichtbatterien bereit, das folgende nächtliche Schauspiel zu beleuchten. SONNTAG ABEND IM ZIRKUS DER FREUDE verkündete der Bildschirm, dann verschwand die Schrift allmählich hinter dem berühmten Engel-mit-Schwert-Logo.
    Zwischen den Beinen der Statue öffnete sich ein massives hölzernes Tor. Ein Musikzug marschierte heraus, die weißen Uniformen glänzten in der Sonne von Süd Jersey. Sie spielten ›Michael, Row the Boat Ashore‹ im Viervierteltakt. Brüllende Tubas, schmetternde Posaunen, donnernde Trommeln. Dann kam eine Prozession von Festwagen mit Luftballonpuppen, die Julie durch den Nebel ihrer Furcht als Widerschein des Jahrtausends wahrnahm: Lämmer, die sich an Löwen schmiegten, Mandolinen und Lyras zupfende Engel, muntere Kinder, die über grasbewachsene Hügel tollten, und schließlich ein Mittelschicht-Paar, wie es Rüben aus einem pestizidfreien Gemüsegarten erntete.
    »Sheila?« Eine vertraute Stimme, trocken und heiser. »Sheila, bist du das?«
    Julie drehte sich um. Rotgeäderte Augen. Tränenverschmierte Backen. Melanie Markson lächelte.
    »Melanie?« Großer Gott: Melanie.
    »O Sheila, sie haben dich ja verstümmelt! Und dein Haar haben sie abgeschnitten!«
    Haar, dachte Julie. Haar, Hand, Eierstöcke. »Warum bist du…?«
    »Mein letztes Buch«, antwortete Melanie. »Voller Irrtümer, sagen sie.«
    »War es das?«
    »Ich weiß nicht. Du bist wohl nicht mehr nach Amerika gekommen, hm?«
    »Doch. Ich war dort. Phoebe hat ein Baby.«
    »Tatsächlich? Ein Baby! Wer ist der Vater?«
    »Mein Vater.«
    »Ich erinnere mich an dieses schreckliche Zeug über Schnappschüsse. Ich dachte, er sei gestorben.«
    »Sein Sperma nicht.«
    »Wart mal… Das war irgendwas mit… ›des Gewöhnlichen‹… oder so.«
    »Hermeneutik des Gewöhnlichen.«
    »Richtig. Ein Baby, das ist wunderbar. Sheila, kannst du…?«
    »Tut mir leid, Melanie. Ich kann es nicht. Und das weißt du.«
    »Ich hab solche Angst, Sheila.«
    Der Musikzug marschierte zweimal um den Platz und verschwand unter der Johannes-Statue, woraufhin die Fallgatter knirschend nach oben gingen. Ein untersetzter, auffällig gekleideter Mann stolzierte auf den Warteplatz. Rotes Dinner-Jackett, rot plissierter Kummerbund, weißer Zylinder. Mit seiner Reitpeitsche tippte er einem Dutzend Gefangener auf die Unterarme. Melanie war auch dabei. Er setzte eine silberne Pfeife an die Lippen. Metallisch scharfer Pfiff, dann sagte er: »Bewegt euch, Leute! Hier lang, wenn ich bitten darf!«
    Auf dem Bildschirm: ERSTER AKT: DEIN SCHWERT WIRD MICH TRÖSTEN!
    Auf dem Platz draußen baute sich der Henker inmitten der Hackstöcke auf. Üppiges, blondes Haar, weißer Overall, rote Segeltuchhandschuhe. Auf der Schulter trug er eine Kettensäge wie einen geliebten, aber geistig behinderten kleinen Bruder. Julie schloß die Augen. Das

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