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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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das ist alles. Ich bring dich vor Tagesanbruch heim.«
    »Ich bin nicht verantwortlich für diesen Kreuzzug.«
    »Wofür bist du denn verantwortlich?«
    »Schwer zu sagen.«
    »Pain.«
    »Was?«
    »Mein Schoner heißt Pain.«
    Der obere Kopfteil der Treff-Dame rollte auf den grünen Filz. Ein leises, perversen Lachen – und Treff-König schlug noch einmal zu, trennte den Kopf der unteren Königin sauber ab.
     
    »Eindrucksvolles Schiff«, sagte Julie. Der Teufel führte sie über den Steel-Pier, dessen verrostete Ruine sich wie der Rücken einer untergetauchten Seeschlange in den Atlantik erstreckte. Die Pain, ein riesiger Dreimaster, mit Segeln, die an runzlige, dünne Fledermausflügel erinnerten, lag mit einer lebenden Python vertäut am Dock.
    »Ich bin ein Mann von Vermögen und Geschmack.« Wyvern deutete stolz auf den Schiffsrumpf. »Frisch gestrichen mit der Galle von zehntausend ungetauften Kindern. Die Spieren bestehen aus den Knochen massakrierter Armenier, die Taue aus den Haaren der Frauen von Salem. Der Klüver ist Judenhaut. Die Menschen bringen mich immer auf die besten Ideen, Julie. Was Eingebungen betrifft, kann ich mich, genau wie du, nie auf deine Mutter verlassen. Bei der Beulenpest war ich mindestens so kreativ wie sie.«
    Er half ihr aufs Vorderdeck. Dunkle gebückte Gestalten rannten herum wie Käfer, die ihr Versteck verloren hatten. Er deutete mit kurzem Nicken aufs Ruderhaus. »Sag ›Hallo‹ zu Anthrax«, forderte er. Der Rudergänger war dick, borstig und gepanzert; irgendwas zwischen Eber und Gürteltier.
    »Hallo.« Sie fühlte sich innerlich gespalten, eine Hälfte ihrer Psyche verharrte in South Jersey, die andere in einer alternativen Quantenrealität, wo sich der Teufel und seine Brut vergegenständlichten.
    Anthrax lächelte ihr zu und tippte an einen nicht vorhandenen Hut.
    Faulig riechender Wind erhob sich, als die Dämonen die Leinen losmachten. »Meine Engel«, erklärte Wyvern. »Sie spreizen den Hintern, und die rektalen Brisen füllen die Segel.«
    Die Pain ging auf Südkurs. Die Casino-Hotels zogen vorbei – das hell erleuchtete ›Bally’s‹, das gespenstische ›Caesar’s‹, das mächtige ›Atlantis‹, das epische ›Golden Nugget‹. Wie ein weißer Korken hing der Mond über der Stadt.
    Allmählich wich Julies Furcht einer seltsamen Ausgeglichenheit. Ein flinkes Schiff, ein großer Ozean – konnte sie da nicht einfach abhauen? Irgendwohin. Ins sonnige Spanien, exotische Thailand, zu Howard Liebermans geliebten Galapagos-Inseln oder in jenes Südsee-Paradies, das sie und Phoebe im ›Deauville‹ gesehen hatten.
    »Du warst auf dem Holzweg«, sagte Wyvern. Als der Schoner in Great Egg Harbor einlief, gab Anthrax der eingerollten Ankerkette einen Tritt – der Anker war offensichtlich eine Art Seeschlange. Eine große, pulsierende Masse aus Stacheln kroch über das Deck, zog die Kette hinter sich her und plumpste über die Seite hinunter. »Du wolltest, daß die Massen sich der Vernunft, der Wissenschaft öffnen. Wird nie klappen. Sie können gar nicht – sie haben keinen Zugang.«
    »Wissenschaft ist schön«, sagte Julie.
    »Glaubst du, das weiß ich nicht?« Wyvern öffnete den Kasten beim Ruderhaus, zog ein Messingteleskop heraus und hielt es Julie vors Auge. »Ein paar Lieblingsdinge von mir haben alle mit Wissenschaft zu tun – Atombomben, Zyklon B, Eugenik.« Er zeigte ihr die Scharfeinstellung. »Das Problem ist einfach: nur wenige Menschen wollen Wissenschaftler werden. Siehst du das Dilemma? Laß ihnen die Wahl zwischen einer Wahrheit, die sie einsehen könnten und einer Lüge, die sie leben können – die meisten wählen du-weißt-schon-was.«
    Zuerst alles verschwommen; rundum ein Halo aus Mondlicht. Julie stellte scharf: eine Menge in feierlichem Schweigen, gut über 2000 Männer und Frauen. Sie trugen ausgebleichte Flakjacken, umklammerten die Griffe von roten Plastikbenzinkanistern und batteriebetriebenen Black-und-Decker-Heckenscheren. »Die dunkle Seite des amerikanischen Geistes«, sagte Wyvern. »Hier speziell ein Hafen voller Apokalyptiker. Sozusagen ihr Parkplatz.«
    Julie schwenkte das Fernrohr auf ein halbes Dutzend Pick-up-Trucks. Auf jedem eine Emailwanne. Zwei muskelbepackte Männer mit dicken schwarzen Gummihandschuhen hoben aus der ersten Wanne einen riesigen Thunfisch – ja, großer Gott, einen glatten, sich windenden, Luft schnappenden Thunfisch – und trugen ihn zu einem schüsselförmigen Grillofen. Wyvern nahm ihre Frage

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