Die eingeborene Tochter

jedenfalls verdreifachte sich ihr Einsatz innerhalb von zehn Minuten. Egal, was sie spielte – Splits, Doppel, Wetten –, sie gewann. Das Amt ein Fehlschlag, ihr Liebhaber ein Verräter, die Tante hysterisch und die Freundin Säuferin – aber heute abend wurde sie reich. Ein düsterer menschlicher Schatten kroch über den Tisch, dick und fühlbar wie verschüttete Tinte. »Verschwinde«, sagte der Schatten. Die Frau verzog sich, der Schatten blieb. »Du hast den richtigen Tisch ausgesucht – hier spielen die großen Gewinner.« Die Stimme erinnerte an verschwundene Eleganz, europäische Aristokraten beim Mozartkonzert. Julie schaute nicht auf. Geber war Geber.
    Sie legte vier Zehn-Dollar-Chips auf den Tisch, verdoppelte den gewohnten Einsatz. Herz-As für sie, Pik-Zehn für den Geber. Tony wollte Schoßtierberatung: Lieber Dr. Doolittle: Mein Kanarienvogel singt nicht mehr. Warum? – BESORGT in Milwaukee.
    Lieber BESORGT: Weil er Sie nicht ausstehen kann.
    »Ich habe über deine Frage nachgedacht«, sagte der Geber.
    Julie fixierte ihr As. Das Bild, ein großes rotes Herz, schien sich zu bewegen. Zu vibrieren. Klopf. Klopf-klopf.
    Sie blinzelte. Klopf-klopf. Ein schlagendes Herz? Verlor sie schon den Verstand?
    Sie beobachtete ihr Gegenüber. Bei seinen früheren Besuchen war ihr nie aufgefallen, wie gut Andrew Wyvern aussah. Hoch angesetzte Wangenknochen, Augen aus Obsidian, scharf konturierte Lippen. Sein weicher, grauer Bart glich eher einer Art Pelz als einem Bart: ein Werwolf in voller Frische, bis aufs Maul überall rasiert. Sie roch den Duft in Honig eingelegter Orangen. »Welche Frage?« sagte sie.
    »Über Gott.« Zack. Zack. Karo-Drei für sie, verdeckte Karte für Wyvern. »Du wolltest wissen, warum sie den Teufel duldet.« Sein Smoking glänzte wie schwarzer Marmor. Julie nickte: Gib. Zack, Treff-Zehn. Ihr As zählte nun niedrig. Sie nickte. Zack, Karo-Bube, vierundzwanzig, aus. Der Teufel streifte ihren Einsatz ein, wischte ihre Karten fort. »Macht korrumpiert«, sagte er dann, »aber das ist nicht alles.«
    Julie setzte fünfzig Dollar. Zack, zack. Treff-Zehn für sie, Pik-Neun für Wyvern. »Jeder glaubt, wenn er Gott wär, würd er’s besser machen. Welche Anmaßung! Die meisten von uns würden doch schon an der Mathematik scheitern.«
    »Sie meinen, Gott ist überfordert?«
    »Genau.« Zack, Karo-Sechs für Julie.
    »Lügner. Sie wissen über Gott auch nicht mehr als ich.«
    Zack, seine verdeckte Karte. »Na schön – aber wenn meine Lügerei für dich so offensichtlich ist, dann sollte es mein Abstieg in die Ehrlichkeit sein. ›Komm heut nacht auf meinen Schoner – kein Übel wird dir widerfahren‹, sagt der Teufel. Er spricht die Wahrheit, denkt Julie Katz.«
    »Schoner?« Verrückt, jetzt noch eine Karte zu nehmen, aber sie tat es. Zack, Pik-Dame. Aus. »Heut nacht?«
    »Ein Kreuzzug steht bevor.« Eine Geste Wyverns über ihren Treff-König – und das Fleisch löste sich von den Köpfen des Doppelbildes, Schädel und Augäpfel blieben übrig. »Da mußt du dich einmischen!«
    »Ich misch mich sowieso schon dauernd ein.« Treff-König zwinkerte. »Lies meine Kolumne.«
    »Deine Kolumne ist tot, Julie – haben sie dir’s nicht gesagt? Ist doch nur Weihwasser für die Verdammten.«
    »Ja, jaa!« stöhnte sie. Ihr König zog hinter seiner Krone ein Schwert hervor, die dazugehörende Dame duckte sich, gefangen in der Geometrie des Kartenuniversums; sie hatte als Waffe nur eine Blume.
    »Ich hab ›Der Himmel hilft‹ wirklich sehr bewundert – las es jede Woche.« Wyvern nahm ihren Einsatz an sich. »Einmal hab ich sogar selbst hingeschrieben. Ich war dieser schüchterne lutherische Geistliche in Denver, den seine Gemeinde nicht versteht.« Der Teufel zeigte auf Julies Karten. »Es gibt jedoch Situationen, wo das Schwert mächtiger ist als die Feder.« Treff-König schlug zu, der halbe Kopf der Dame klappte wie der Deckel eines Feuerzeugs nach hinten. Blut quoll aus dem keilförmigen Spalt; die Blume verfärbte sich schwarz und fiel der Dame aus der Hand. »Morgen könnte es tausend solche Tode geben. Zehntausend. Hast du gewußt, daß die Kreuzfahrer im 11. Jahrhundert nach der Eroberung Jerusalems durch die Stadt gelaufen sind und die Einwohner mit ihren Schwertern ausgeweidet haben? Sie suchten nach verschluckten Münzen.«
    »Ich war nicht dabei.« Julie setzte sechzig Dollar.
    »Hättest du sehen sollen.« Wyvern schob ihren Einsatz zur Seite. »Eine kurze Fahrt die Küste runter,