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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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kopflose Art, wie sich die Opfer zu retten versuchten; wollten in den Ozean springen, torkelten aber nur blind auf dem Pier herum, stießen grauen Rauch, rotglühende Funken und zielloses Gewehrfeuer aus.
    Schwenk, Schärfen. Die Führerkabine. Ein bleicher, babygesichtiger Captain umklammerte das Funkmikrofon, die Lippen wie im Starrkrampf verzerrt; er brachte kein Wort heraus.
    Nun kamen die Racheengel mit ihren Heckenscheren und schleppten den Captain an Deck.
    »›Und siehe, eine weiße Wolke‹«, zitierte der Teufel, als die Apokalyptiker über den Mann herfielen und ihn auf viehische Art zerstückelten. »›Und auf der Wolke saß einer, der gleich war eines Menschen Sohn; der hatte eine goldene Krone auf seinem Haupt und in seiner Hand eine scharfe Sichel.‹« Julie weinte bittere Tränen. Die Officer auf dem Pier brachen zusammen, schwelende Haufen aus gebratenem Fleisch.
    Wyvern packte Julies heiße Hand. »›Und will also mit dir umgehen, wie ich nie getan und hinfort nicht tun werde, um aller deiner Greuel willen:‹ – das ist Gottes Stimme, Julie – ›daß in dir die Väter ihre Kinder und die Kinder ihre Väter fressen sollen; und will solch Recht über dich hegen lassen, daß alle deine übrigen sollen in alle Winde zerstreut werden.‹« Der Teufel seufzte voll Bewunderung. »Ach, ich wünschte, das wär von mir!«
    »Bring mich hier weg.«
    »Du willst nicht eingreifen?« Das Küstenwachtboot stand nun in Flammen, das Feuer leuchtete hell über dem Hafen und als Spiegelbild auf dem Wasser.
    »Ich… ich…« – die Schlange auf ihrer Stirn schauderte und krümmte sich – »…muß… muß darüber nachdenken…«
    »Nachdenken? Wie kannst du da nachdenken? Jeder will, daß du eingreifst. Selbst Gott will, daß du eingreifst!«
    »Du hast versprochen, ich bin vor Sonnenaufgang zurück.«
    »Ich hätte mir mehr von dir erwartet, Julie.«
    »Bring mich nach Hause.«
    »Versprochen ist versprochen.« Wyvern hob die Schultern. »Vergiß nur nicht: Ich bin immer da, wenn du mich brauchst. Das ist mehr, als du von deiner Mutter sagen kannst.«
     
    Die brennenden Küstenwachleute blieben wie Nachbilder eines Blitzlichts in Julies Augen haften, als sie aus dem Dingi der Pain an Land stieg und die Mole hinaufkletterte. Die Morgendämmerung sickerte über den Himmel, schemenhafte Umrisse lösten sich aus dem Dunkel – Kiefern, Leuchtturm, Cottage. Im Tempel brannte Licht, schimmerte durch die mit allen Qualen der Menschheit beklebten Fenster. Phoebe höchstwahrscheinlich beim Trinken oder Drogennehmen oder beidem.
    Julie schaute nach Westen. Die University of Pennsylvania: die Samenspenden ihres Vaters in eisigen Reagenzgläsern.
    »Sie sind schon unterwegs, Pop!« schrie sie.
    Sie hoffte, daß er im Himmel war. Und eine Bibliothek hatte.
    »Durch ein paar Eingriffe ist das doch nicht zu ändern!«
    Sicher würde er das einsehen.
    Im Bad zog Julie Georginas Abschlußball-Kleid aus und drehte die Dusche auf. Die Apokalyptiker hatten ihre Waschungen durchgeführt, jetzt war sie an der Reihe; man mußte Reinheit mit Reinheit bekämpfen. Überall die brennenden Männer der Küstenwache. Knochen in der Seifenschale. Haut hing von der Vorhangstange, Blut quoll aus der Brause.
    Sie wusch sich, zog Melanies pfirsichfarbenen Kimono an und betrat den Tempel. Phoebe saß neben dem Altar und schnitt einen Ölunfall aus Mother Jones aus. »Hi, Katz! Schon so früh auf?«
    »War gar nicht im Bett.« In einer einzigen, krampfartigen Bewegung schnappte sich Julie den Mother Jones- Ausschnittund zerriß ihn. »Jetzt kriegst du, was du immer wolltest!«
    »Eine gewisse Dame in Aktion?« fragte Phoebe unsicher.
    Julie nickte. »Die breite Straße«, sagte sie.
    »Ich dachte, du willst nicht, daß wir die Antworten im Himmel suchen.«
    »Sie kleiden sich in Blut, Phoebe. Sie töten Menschen.«
    »Wer?«
    »Billy Milks Brandstifter.«
    »Brandstifter?« Phoebe zündete die Altarkerzen an. »Du meinst, du bist dem hier entwachsen?«
    »Ja, das glaub ich.«
    »Zeit, in der eigenen Haut zu leben? Zeit, den Teufel zu schlagen?«
    »So kann man es ausdrücken.«
    Phoebes stürmische Gesten füllten den ganzen Raum.
    »Das alles hier ist nicht mehr zeitgemäß, hm?«
    »Richtig. Hilf mir!«
    Sie umarmten sich, und dann begann sie, die gewaltsame Säuberung; das gesammelte Leiden der Menschheit wurde in großen Fetzen von den Wänden gerissen wie Eidechsenhaut, Schicht um Schicht von Flüchtlingen, Überschwemmungsopfern,

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