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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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und die See verwandelte sich in Säure – so schnell, wie sich zuvor das Benzin der Apokalyptiker in Milch verwandelt hatte. Keine gewöhnliche Säure wie Salz- oder Schwefelsäure – sondern die Magensäfte der primordialen Geiß, rauchend und schäumend, stark genug, den Boden jedes Schiffs zu zerfressen, der Saft eben, den wohl eine Gottheit dazu brauchen mochte, ein Tidebecken in einen Planeten hineinzufressen; eine Kette von Gebirgen aus dem Kontinentalschelf herauszuätzen. Wasser in Säure. Kinderspiel. Basisalchemie.
    Julie kehrte in den Leuchtturmraum zurück.
    Ihre Einsamkeit hatte Struktur und Gewicht. Sie hätte ihren Siedepunkt messen können, das spezifische Gewicht. Tante Georgina haßte sie; Phoebe war abgehauen; Bix ein Verräter; Melanie in Hollywood, um reich zu werden; Pop aufgeteilt auf eine Bündel eisiger Reagenzgläser und einen Topf auf dem Meeresgrund. Allein.
    Ein tiefes, leises Zischen, röchelnde Stimme aus dem Messingbauch der dochtlosen Lampe. »Ich möchte dir ein Angebot machen.«
    »Was?«
    »Ein Angebot.«
    »Wer ist da?«
    »Ein alter Bekannter.« Und die verruchte, rote Schlange, Bewohnerin der Lampe, kroch aus der Halterung des Dochts, Giftbeutel an den Wangen, nach Honig und Orangen duftende Kreatur. »Der Mob hat dich im Griff, mein Kind. Deine Geheimnisse sind offenbar. Und in die Flasche kannst du nicht zurück.«
    »Ich hab sehr viel verloren«, gestand Julie der Schlange, »mein Amt und meine Freunde…«
    »In vierundzwanzig Stunden sticht die Pain in See.« Andrew Wyvern kroch an der Lampe hinunter, schlängelte sich über den Boden. »Schließ dich der Reise an, mein Kind! Als Bürgerin der Hölle hast du’s besser als hier in Jersey, wo du Sklavin bist!«
    Julie runzelte die Stirn, kratzte ihre Narbe. Mitgehen auf diese Reise? Das bekannte Universum verlassen? Sie dachte über die Möglichkeit nach. »Die Hölle ist weit weg, Mr. Wyvern.«
    »Glaub mir, jemand mit deinem Hintergrund hätte dort die beste Behandlung, erstklassige Unterkunft. In der Hölle gibt es einige der besten Köche und Kellermeister, die je gelebt haben. Unsere Masseure kennen die vergessenen Harmonien des Fleisches.«
    Freiheit – aber… nein, nein, nein! Ihre Mutter hatte sie hierher – aus welchen Gründen auch immer –, hierher nach Atlantic City berufen. »Ich kann nicht.«
    »Selbstverständlich kämst du gleich rein. Keine Warteliste.«
    »Ihr habt eine Warteliste?«
    »Natürlich haben wir eine Warteliste! Glaub bloß nicht alles, was du über die Hölle hörst! Bei der nächsten Anti-Höllen-Propaganda – schau dir an, wo sie herkommt!«
    »Ihr belegt die Menschen mit ewigen Strafen«, entgegnete Julie.
    »Doch bloß, weil das unser Job ist. Und außerdem: wir verfolgen nur die Schuldigen, was wir den meisten anderen Institutionen voraushaben.« Die Schlange zischte wie ein Dynamitzünder. »Vierundzwanzig Stunden, Julie. Dann geht kein Zug mehr. Komm mit uns mit! Hier kannst du nichts mehr tun.«
    Dem Teufel zu glauben, war verrückt. »Sie meinen – ich hab meine Bestimmung erfüllt?«
    »Du hast deinen Bund bekannt gemacht. Jetzt mach das Feuer aus. Vorhang.«
    »Seien Sie doch ehrlich, Mr. Wyvern. Um mein eigenes Leben zu führen, muß ich nicht gleich das bekannte Universum verlassen. Ich könnte nach… ich weiß nicht… nach Kalifornien gehen.«
    »Auch in Kalifornien würden sie dich sofort aufspüren. Dein Bild war in jeder Ausgabe des Moon. Elf Monate lang!«
    »Ich könnte mein Gesicht verändern.«
    »Aber nicht deine Gene! Solange du auf Erden weilst, wird deine Göttlichkeit immer zum Vorschein kommen. Früher oder später fallen alle Masken, und dann…«
    Ein feuriges Schauspiel in der dochtlosen Lampe. Im Zentrum ein kleines, puppenhaftes Simulacrum Julies, an ein hölzernes Kreuz genagelt. Die Puppe schrie wie ein kochender Wasserkessel. Schattenhafte Homunculi standen Beifall klatschend zu ihren Füßen. Ein billiger Trick, dachte Julie. Albern, nicht überzeugend. »Mach es aus!« Die Puppe blutete aus nadelstichkleinen Wunden. »Aus!«
    Das gespenstische Puppenspiel verschwand.
    Ihre Arterien vibrierten wie gespannte Harfensaiten. Zum erstenmal in ihrem Leben spürte sie, daß sie Pops Herz geerbt hatte, diese verletzliche, so leicht zerstörbare Pumpe. Gott hatte schon früher Sühnetode gefordert und würde vielleicht wieder einen fordern.
    Wenn es ihr nicht gelang, zu fliehen…
    »Rette dich, Julie!« Die Schlange lächelte, zeigte angelhakengleiche

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