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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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hinunterkletterte, wurde sie erkannt; der Lärm der Menge schlug über ihrem schmerzenden Körper zusammen. »Hey, die Moon- Lady!«
    »Wie auf dem Foto!«
    »Sie ist es!«
    »Sheila!« Benommen stieg sie die Rampe hinunter, teilte die Menge wie Wasser vor dem Bug eines Schiffs. Als sie den Sand betrat, war sie zu einem einzigen Wesen, einer lebendigen Masse fleischgewordener ehrfurchtsvoller Anbetung verschmolzen.
    Vom Turm aus hatte das Elend am Strand überschaubar, faßbar ausgesehen. Aber hier unten herrschte Chaos, benommene Spieler liefen im Kreis umher, Leichen lagen da wie gestrandete Fische. Ihr schwirrte der Kopf, die Augen wurden glasig. Langsam taumelte sie vorwärts, sicher umhüllt von ihrer göttlichen Aura. Das Stöhnen der Heckenscheren-Opfer mischte sich mit dem Weinen verwaister Kinder. Überall zuckende Körper, verbrannte Muskeln, blutende Fleischbrocken. Sie stieg über einen halbwüchsigen Jungen, der Oberschenkel nur noch ein verkohlter Klotz.
    Erwartete man, daß sie dieser bemitleidenswerten Spezies half? War sie etwa für den ganzen verdammten Strand verantwortlich, dann für die Stadt mit Haufen von Verbrannten und Verstümmelten, für den ganzen Staat und schließlich – für alles? Sie konnte diese Leute nicht endgültig erretten, geschweige denn unsterblich machen und mit Gott vereinen, aber sie hatte ihre bloßen Hände; sie konnte sich in eine heilende Verrückte verwandeln, zerrissenes Gewebe mit den Fingerspitzen nähen, Brandwunden mit Speichel kühlen, Knochen mit ihrem Laserblick flicken…
    Und da war er wieder, derselbe Geruch, den Roger Worth in der Nacht, als der Winnebago sank, verströmte hatte; der Gestank der Verehrung, der ihr wie ein Messer ins Hirn schnitt. Keuchend krümmte sie sich und fiel in den Sand. Pop hatte ja so recht gehabt. Nimm die breite Straße, und du bist auf immer gefesselt, Sklave ehrfürchtiger Anbetung.
    Phoebe. Phoebe, die ihr Selbstvertrauen geschenkt, ihr beigebracht hatte, Risiken einzugehen. Phoebe: saß jetzt im kahlen Tempel und wartete darauf, vom Bann des Bacardi befreit zu werden. Aber hätte sie es für Phoebe gewagt, gegen Milks Armee zu marschieren? Sie überblickte die wartende Menge. Es würde immer solche erwartungsvollen Mengen geben, immer. Der Kampf, auf den es ankam; der lag noch vor ihr: auf Angel’s Eye.
    »Nein!« und »Bitte!« dröhnte es wie bösartiges Wespengesumm in den Ohren, als sie über den Sandstrand hinkte und in die Brandung taumelte. Der Atlantik schlug über ihr zusammen. Die Schreie klangen nun gedämpft und unwirklich. Zur Hölle mit ihnen. War es nicht genug, daß sie das Feuer gelöscht hatte? Wie viele Leben hatte sie wohl gerettet? Fünftausend? Zehntausend? Immer tiefer stieg sie hinab, der Wasserdruck nahm zu, der Lärm hörte auf, sie nahm Kurs auf Angel’s Eye, allein mit ihrem Zorn und dem stetigen, sanften Schlagen ihrer Kiemen.

 
9. Kapitel
     
    Julie rannte den Pier entlang – die Augen mit Salzwasser verklebt, Gänsehaut am ganzen Körper. Die Rettung ihrer besten Freundin – krönender Abschluß ihrer großen Intervention! Her mit den Flaschen! Einzeln würde sie die zerschmettern, pulverisieren und aus dem Pulver Sandburgen bauen. Her mit Bacardi-Fledermaus, Gordon’s Eber, Courvoisier Napoleon, Beefeater! Nur her mit Old Grand Dad, Jack Daniel’s, Jim Beam, Johnny Walker, her mit der ganzen beschickerten Gesellschaft! Sie platzte durch die Vordertür, schrie gellend »Phoebe!« Keine Antwort. »Phoebe! Phoebe!« Pops Bücherwände dämpften ihre Rufe.
    Sie stolperte in die Küche. Eiskaltes Seewasser floß die Arme hinunter, bildete Pfützen auf dem Linoleum. Leer. »Phoebe?« Die Waschküche: nur die Waschmaschine, das Trockengestell, ihre Wiege unter Spinnweben. »Phoebe?« Sie schaute in den Tempel. Tante Georgina saß auf dem Bett ihrer Tochter, starrte wie eine Schizophrene auf die kahlen Wände.
    »Hi.«
    »Oh… du.« Das scharfgeschnittene Gesicht verzog sich zu höhnischem Lächeln. »Unsere hiesige Inkarnation.« Auf dem Schoß hatte sei ein Stück randgelochtes Computerpapier. »Ich hab schon den ganzen Morgen Feuersirenen gehört.«
    »Ein paar Brandstifter haben die Stadt angegriffen, ich hab sie aufgehalten. Wo ist Phoebe? Ich will sie heilen.«
    »Hab ich mir schon gedacht.« Georgina schob ihr das Blatt zu. »Lag auf dem Küchentisch.«
    Phoebes unverwechselbare Handschrift, alle Schleifen und Knäuel.
     
    LIEBE SHEILA: Meine Freundin und Hausgenossin, die zufällig

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