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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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dem unaufhörlichen Lärm der Menge fand Julie keinen Schlaf. Ein vielstimmiges Geheul, als ob Wölfe Glassplitter auskotzen. Die ganze Nacht hindurch kamen immer mehr Zeitungsleute und Fernsehteams an, in der Morgendämmerung waren sie wie eine feindliche Armee über den ganzen Platz verteilt. Reporter von der Atlantic City Press brüllten mit Lautsprechern über den säuregefüllten Graben nach einem Interview mit der Frau, die ihre Stadt gerettet hatte. Videokameras, mit Hebebühnen auf Lastwagen montiert, waren dauernd auf Angel’s Eye gerichtet. Ein Hubschrauber mit dem WACX-Radio-Logo dröhnte um den Leuchtturm, das Rotorgeräusch war so entnervend, daß Julie nichts anderes übrig blieb, als ihr Zuhause in dichten Nebel zu hüllen.
    Sie versuchte, sich mit Fernsehen abzulenken, aber das brachte so viele Sheila-Stories, daß es war wie ein Blick in den Spiegel. Auf Kanal 9 stand eine statuenhafte Blondine am Rand des ausgeätzten Burggrabens. Rundum die toten Lebenden, im Hintergrund der in Nebel gehüllte Turm. »Wer steckt in dieser Wolke?« fragte sie in die Kamera. »Manche sagen: eine Hexe. Andere versichern uns: die Jungfrau Maria.« Sie hielt das Mikrofon ganz nahe an die Lippen. »Aber hartnäckig hält sich ein Gerücht, das auch all diese Menschen nach Brigantine Point gebracht hat. Für sie ist Atlantic Citys mysteriöse Wohltäterin niemand anderer als Sheila, Gottes eingeborene Tochter.« Die Reporterin blinzelte. »Tracy Swenson, Kanal 9 Action News, Brigantine.«
    In der Abenddämmerung entfernte Julie den Nebel, schälte ihn vom Turm wie das Etikett von einer Rumflasche. Am Horizont kreuzte die Pain; ein Hai über seinen Fischgründen.
    Zieh dich gut an, sagte sich Julie. Melanies Kimono schickte sich nicht für den denkwürdigen Abgang, der für ihre sichere Überfahrt nötig war. Sie zog Melanies Wildlederstiefel an und zwängte sich in Georginas Abschlußballkleid. Das Gesicht mußte sie sich auch herrichten – ein paar Minuten mit Georginas Make-up, und schon waren ihre Augen größer, die Narbe verschwunden, die Lippen wie Rosenblätter.
    Sie trat auf den Rundgang hinaus. Tausend verlangende Blicke, Beifallrufe. Sie kletterte aufs Geländer, balancierte wie eine Akrobatin auf der schmalen Eisenstange. Sie breitete die Arme aus und hüllte sich in Licht – pulsierender Halo, der ihren Körper umgab, Regenbogen aus Feuer. Dann sprang sie.
    Zuerst schien es, als halte sie das erstaunte Geschrei der Menge in der Schwebe, aber nein, ihr mütterliches Erbe setzte sich da durch, ließ sie wie einen vernunftbegabten Kometen über den dunklen Himmel sausen. »Schaut doch!«
    »Sie fliegt!«
    »Sheila!«
    »Bleib da!«
    »Maria!«
    »Sie fliegt weg!«
    »Sheila!« Sie zog eine Schleife, kreiste, wie um einen Maibaum zu schmücken, um den Leuchtturm, stieg dann steil über der Bucht in die Höhe, nahm Kurs auf den wartenden Schoner. Die kühle Luft kräuselte ihr Haar, ließ ihre Kleider flattern, liebkoste die nackten Arme. Fliegen war schöner, als auf dem Grund der Absecon-Bucht herumzuschwimmen. Fliegen war schöner als Sex.
    Sie landete im Krähennest, schreckte einen schläfrigen Geier auf und zerbrach eines der Eier. Die feuchte, sehnige Takelage quietschte und ächzte, als sie Hand über Hand hinunter kletterte. In die Freiheit. In die Sicherheit. In eine Wirklichkeit, wo kein Baby-Bank-Terrorist, kein Kreuzzugsopfer eindringen konnte. Wolken des Unbekannten, Schatten des Quantenzweifels wälzten sich von Norden heran, hüllten den Schoner in schwarze Schleier, griffen nach den Spieren, setzten sich an den Masten fest.
    Julie schritt aufs Vorderdeck. Drei Engel mit kohlschwarzen Augen schauten von der Arbeit auf – sie waren grade dabei, mit Nadel und Faden ein Loch in einem Seil aus Fleisch zu flicken. Sie applaudierten. Anthrax im Steuerhaus hob die Klauenhand an die Lippen, warf ihr eine Kußhand zu.
    Entschlossen marschierte sie durch Wyverns eichengetäfelte Kabine in den Salon dahinter; langsam wegen des gummiartigen Eidotters an den Stiefeln. Der Teufel stand an der Polsterbank. »Willkommen an Bord!« Streichelte ihren Arm. Am Aufschlag des weißen Dinnerjackets trug er, leuchtend wie eine frische Wunde, eine lachsrosa Nelke.
    »Ich hab die richtige Entscheidung getroffen«, versicherte Julie. Ihre Stimme zitterte dabei.
    »Niemand mit deinen Talenten kann es längere Zeit auf der Erde aushalten«, bestätigte Wyvern. »Was für ein Jammertal unrealistischer Hoffnungen! Diese

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