Die eingeborene Tochter
eine sehr plötzliche, beispiellose, denkwürdige Weise.
Wie Jesus.
Ein lebhaftes Nachmittagslüftchen vom offenen Schlafzimmerfenster kühlte Julies schweißnassen, erschöpften Körper. Der Schlaf entführte sie auf die Galapagos-Inseln. Hand in Hand mit Howard Lieberman auf einer Reise durch den Schaukasten der Evolution – die Riesenschildkröten, drachengleichen Eidechsen, psychedelischen Vögel. Howard wurde zu Bix. Es erschien eine Schaufel. Ihr Liebhaber grub damit am Strand, als suche er einen vergrabenen Schatz. Dann, plötzlich, ein blendender Lichtstrahl, der senkrecht in die Höhe stieg. Sheila, rief er, das ist wunderbar! Sheila, komm, schau dir das an! Sheila!
»Sheila!«
Bix?
»Sheila! Sheila! Sheila!«
Viele Stimmen. Ein ganzer Mob. Nicht im Traum – draußen in der Tagwelt. In New Jersey, Brigantine Point. Hier.
»Sheila!«
Sie schlüpfte in Melanies pfirsichfarbenen Kimono und kletterte die hundertsechsundzwanzig Stufen zum Leuchtturmraum hinauf, ›Sheila‹-Rufe über ihr wie ein Hagel von Schlägen. Sie ging an der nicht benutzten Lampe vorbei, merkte, daß der Docht fehlte: eine Wyvern-Lampe, dachte sie, eine Lampe, die Dunkelheit in die Welt strahlt.
Sie trat auf den Rundgang.
»Sheila! Sheila!«
Die Menge umgab den Leuchtturm, überflutete den Pier, summte wie ein Bienenschwarm. Es war, als ob mit einemmal ihr Tempel wieder da wäre, um sie zu plagen, menschliche Qualen strömten da von allen Seiten zusammen, ein ganzes Museum. Rollstühle, Krücken und Dialysemaschinen in der wimmelnden Menge. Tragbahren lagen im Gras wie Grabhügel, die Leute darauf an Infusionsflaschen angeschlossen, die von Aluminiumgestellen herabhingen. Überall gediehen Krankheit und Blindheit. Auch gab es immer mehr verbrannte und verstümmelte Körper – Milks Opfer, dachte sie –, aber seltsam, nicht einer von ihnen berührte den Rasen, jeder lag in den Armen von Eltern oder Freunden, als sei die Wiederauferstehung davon abhängig, der göttlichen Sheila buchstäblich ausgehändigt zu werden.
»Rette uns!«
»Wir gehören dir!«
»Sheila!«
Julie duckte sich. Das waren, dachte sie, die Bösewichter in ihrem Leben, die das Reich der Nostalgie verewigen wollten. Was ihnen noch fehlte, waren bloß tausend Skalpelle, mit denen sie ihren Körper in Reliquien zerstückeln würden – du kriegst die heilige Milz, ich will das geweihte Hirn. Verdammt sollen sie sein! Sie breitete ihre Arme aus. Der Lärm verebbte. »Ihr müßt in eurer eigenen Zeit leben!«
»Das hab ich ja versucht!« schrie ein hagerer junger Mann, dessen zuckender Körper mit Lederriemen an einen Rollstuhl gebunden war. Die Menge schien unendlich. Sie stellte sich vor, wie sich der Haufen nach Norden der Küste entlang erstreckte – das ganze östliche Küstengebiet. Und alle warteten auf Erlösung. Niemand konnte von ihr erwarten, mit all dem fertig zu werden, niemand. »Ihr müßt nach vorne schauen, in die Zukunft!«
»Scheiß auf die Zukunft!« rief ein schmerbäuchiger Mann. Er trug ein Mädchen, dessen Körper von zystischer Fibrose gezeichnet war.
»Sheila!«
»Bitte!«
»Hilf uns!«
Eine Belagerung. Die einzig zutreffende Bezeichnung. Julie erinnerte sich an den verregneten Samstagnachmittag, als sie sich bei Roger Worth auf Video ›Die Nacht der lebenden Toten‹ angeschaut hatte. Verrammelt die Türen, nagelt die Fenster mit Brettern zu, die Zombies kommen! Die lebenden Toten? Nein, dachte sie, das hier waren die toten Lebenden. Die waren noch gar nicht im Grab gewesen und dennoch träge, geschwächt und betäubt von den unzählbaren Schwächen des Fleisches.
Verrammelt die Türen, vernagelt die Fenster! – vergiß es, das würde nicht funktionieren, diese Krise erforderte extreme Maßnahmen.
Julie konzentrierte sich auf den Rasen, entfernte das Gras durch bloßes Draufstarren, schor es weg wie eine Krankenschwester, die einen Neurochirurgie-Patienten rasiert. Die toten Lebenden wichen zurück – ehrfürchtig, voller Erwartung. Die Landzunge, gepackt von Julies geistiger Macht, begann zu rumoren, zu beben. Die Erde hob sich, Sandwogen stiegen auf, Felsen schossen wie umgekehrte Meteoriten in den Himmel. Die toten Lebenden zerstreuten sich. Angel’s Eye löste sich vom Festland. Jede Gottheit ist eine Insel, dachte Julie. Wie die Mutter, so die Tochter: abgesondert, fern, ohne Verbindung mit der Außenwelt.
In den aufgerissenen Spalt ergoß sich der Atlantik. Dreimal klatschte sie emphatisch in die Hände,
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