Die eingeborene Tochter
»Ich hab mich nützlich gemacht.«
Wyvern lachte schallend, zeigte mit seinem linken Horn in die Richtung der Höhle. »Fünfzehn Jahre bei diesem albernen Limonadekiosk – und das nennst du nützlich? Dein Bruder war schon immer ein bißchen masochistisch, aber du, ich hätte wirklich gedacht, du bist vernünftiger.«
»Ich hab Heimweh. Ich möchte nach Hause.«
Der Teufel ließ den Schwanz zur Höllenkuppel aufragen. »Ich könnte es auch nicht vertragen, wenn noch ein paar Gottheiten hier unten herumlaufen. Ihr Leute seid so unberechenbar.«
»Jesus hat mir deinen Preis genannt.« Trotzig verschränkte sie die Arme. »Ich bin bereit, die Göttlichkeit aufzugeben.«
Bin ich nicht, dachte sie. Sie gehört mir. Mein Erbteil. Jeder Mensch braucht das.
»Bist du sicher?« fragte Wyvern.
Pfeif auf das Erbe. Pfeif auf die Göttlichkeit. »Hm-hmm.«
»Sieh es von der positiven Seite – schau, was du dafür bekommst.« Auf dem ledrigen, karmesinroten Gesicht des Teufels zeigte sich ein breites Grinsen. »Die Erde, ein erfülltes Leben, keine Menschenmassen mehr, die in deiner Einfahrt herumlärmen…«
»Nimm sie. Nimm mir meine Göttlichkeit.«
»Es wird weh tun.«
Eisige Kälte stieg ihr die Wirbelsäule hoch, nistete sich als fallbeilartiges Gefühl am Nacken ein. »Das halt ich aus.«
»Halt still!« Wyverns linke Klaue leuchtete plötzlich auf, jede Schuppe glänzte wie ein Edelstein. »Beweg dich nicht!«
Nun folgte eine obszöne Wiedergabe von Michelangelos ›Erschaffung Adams‹. Der Teufel langte mit ausgestrecktem Zeigefinger nach ihr. Die heiße Klaue berührte das Hemd, brannte sich durchs Baumwollgewebe, immer weiter, weiter, bohrte sich wie ein Skalpell ins Fleisch.
Ich werd nicht schreien, schwor sie sich. Nicht schreien. Nicht schreien!
Wyvern umarmte und küßte sie. Blutegellippen an ihrer Wange, der heiße Atem versengte ihr die Augenbrauen. »Liebe deine Feinde, nicht wahr?« sagte er.
Die Vulkane schnaubten wie Minotauren, brüllten, wie die Schmelzöfen der Hölle.
Und nun die anderen Finger, die ganze braunborstige Hand, durch Haut und Knorpel hindurch. Er bog die Rippen wie Mantelhälften auseinander, drang suchend, prüfend, tief und tiefer in den Brustkorb, und nun wußte sie, das war Schmerz, Schmerz, die endlos reißende, schlitzende, mahlende Hölle selbst. Sie preßte die Zähne aufeinander, hätte jedes höllische Eisen zermalmen können, rote Funken stoben von den Zähnen, und doch blieb sie still, auch als das Drehen und Graben der Teufelshand fortging, als sei sie Spaten eines Totengräbers und ihre Brust ein Haufen Erde.
Nach einer Ewigkeit fand er das Ding, fand ihre Göttlichkeit und grub sie aus, zog sie aus ihrem fleischigen Grab ans Licht des Tages.
Ihre Göttlichkeit war ein Vogel. Eine weiß schimmernde Möwe, gefangen in Wyverns Pranke. Blut auf dem Kopf, auf den Schwingen klebrige Flüssigkeiten – eine richtige Möwe, biblisch; auch ein Olivenzweig hing ihr im lohgelben Schnabel.
Mit der freien Hand massierte Wyvern die Wunde, pflückte mörderische Krankheitskeime aus dem tropfnassen Matsch, ließ dann in der Körperhöhle Schicht um Schicht gesunder Zellen zu neuem Gewebe wachsen.
»Wa… was ist das?« Schmerzvoll stöhnend zeigte Julie auf den Olivenzweig. Übelkeit stieg ihr wie ein Blutsturz vom Magen hoch.
Wyvern öffnete den Mund. Öliger Speichel tropfte vom ledrigen Zahnfleisch. Und er sprach… nichts – denn schon überflutete dichte Finsternis ihr Bewußtsein, Wyverns Stimme verlor sich als zusammenhangloses Rauschen rauher Winde, sie hörte nicht mehr, was er sprach; hörte nur alte Erinnerungen an seine Worte. Heile diesen blinden Jungen. Rette Atlantic City. Mach den großen Abgang. Heile einen Jungen, rette eine Stadt, fahr zum Himmel auf: Nein, das war vorbei, dachte sie – sie würde nie wieder tote Krabben auferstehen lassen, nie mehr einem Blinden das Augenlicht wiedergeben, keine Städte mehr retten, nicht mehr fliegen, nur das Feuer in ihrer Brust war noch da und die heranbrandende Nacht und ihr Körper, wie er fiel und fiel und fiel…
Dritter Teil
Die Wiederkunft
der Julie Katz
12. Kapitel
Keine Ektogenesemaschine diesmal. Kein unbefleckt gläserner Geburtskanal, keine dampfende, seifenduftende Waschküche, keine weiche Wiege mit kleinen Plastikgänsen darüber. Nur Nacktheit und Dreck. Wie Würmer, die dazu bestimmt sind, dich aufzufressen, sucht der Dreck sich jede Öffnung – Nase, Ohren,
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