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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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durchstößt – etwa, wie ein Messer einen Schleier aufschlitzt –, ihr Zugang zu der Welt verschaffte, die sie aufgegeben hatte. Sie sehnte sich nach Bix’ rätselhafter Zuneigung – er war kein Verräter, das wußte sie jetzt; ihre eigene Dickköpfigkeit hatte ›Der Himmel hilft‹ zum Untergang verurteilt. Und Phoebe. Liebe Phoebe, arme Phoebe. O Mutter, mach, daß es ihr gut geht. Mach, daß sie nüchtern ist. Gib ihr den Oscar für den besten Cinéma-vérité-Sexfilm! Ohne ihren toten Bruder, der sie vom Stöhnen, den Reuequalen der Verdammten ablenkte, wäre sie verrückt geworden. Wenn er glücklich war, sang er mit sonorer Tenorstimme Psalmen. Wenn er müde oder verärgert war, scheute er sich nicht, seine übelriechenden Klienten Stinktiere zu nennen; schalt sich dann selbst wegen seiner Neigung zu schwülstigen und ausufernden Verallgemeinerungen. Jesus von Nazareth, dachte Julie, war ein Mensch.
    »Der Nächste!«
    Der Mann, der die Höhle betrat, schob einen Schubkarren. Ein kleiner Mann: Leuchtturmwärter, Angestellter beim Photorama. Gütiger Gott, aus der Asche auferstanden – er war es!
    Julie ließ die Kelle fallen. »Pop!«
    »Julie?«
    Der Schubkarren war einer von dem Typ, mit dem die Verdammten die endlosen Ausscheidungen der Schmelzöfen fortschafften, obwohl er jetzt kein Masseleisen enthielt, sondern einen Menschen, einen gutaussehenden Schwarzen mit verwegenem Schnurrbart. Dieser Karren war auch notwendig. Der Passagier hatte keinen Unterkörper.
    »Julie!« Murray setzte ab. Narbengewebe überzog seinen rundlichen Bauch. Der Bart verfilzt und versengt. Das braune runzlige Organ, aus dem die Hälfte ihrer Chromosomen stammte, baumelte wie eine überreife Birne herunter. »Du bist’s wirklich!«
    Sie umarmten sich schweigend. Eine ganze Minute lang. Tausend zuckrige Tränen flossen aus ihren türkisblauen Augen. »Der Teufel sagte, du bist im Himmel!«
    »Er lügt.«
    »Nicht immer«, sagte Jesus, »aber oft.«
    »Hat man dich umgebracht, Honey?« Murrays Frage war nur ein heiseres Flüstern. »Haben deine Feinde dich gekriegt?«
    »Ich bin nicht tot«, sagte Julie.
    »Nicht tot?«
    »Ich dachte, ich sei hier unten glücklicher.«
    »Und bist du’s?«
    »Hm-hmm.«
    »Bist du glücklicher?«
    »Ich vermisse Phoebe. Und diesen Bix. Aber in mancher Hinsicht – ja, ich bin glücklicher.«
    Vielleicht fand er das exzentrisch, aber er widersprach nicht, lächelte nur schüchtern und legte ehrerbietig die Hand auf Jesu Schulter. »Rabbi, es ist mir eine Ehre, dich zu treffen. Ich lese manchmal die Evangelien. Vielleicht kannst du mir ein paar Fragen beantworten. ›Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert…‹«
    Jesus hustete. »Wir sind zeitlich etwas knapp.«
    »O Pop, es tut mir so leid, daß ich dich nicht habe richtig auferstehen lassen!« sagte Julie. Sie nahm den Unterarm ihres Vaters, spürte darin die rasende Qual. »Ich hätte dich zurückgebracht! Hättest du mich doch gelassen!«
    Er zuckte die Achseln. »Vielleicht. Schwer zu sagen. Das Leben ist verwirrend. Der Tod ist verwirrend. Alles ist verwirrend.«
    »Ich hoffe, du bist nicht beleidigt wegen der Verbrennung.«
    »Das ist alles längst vorbei.« Murray tippte mit blasenüberzogenem Finger dem beinlosen Mann auf die Schulter. »Julie, ich möchte dir jemanden vorstellen. Weißt du, wer das ist?«
    »Nein.«
    »Das ist Phoebes Vater. Der Samenspender.«
    Der Torso lehnte sich über die Schubkarrenkante. Julie schüttelte eine weiche Hand. Tiefe Glockenstimme. »Markus Bass«, sagte er.
    Sie atmete tief durch. Phoebes Vater! »Ich bin Julie.« Gott, wenn sich die beiden doch nur treffen könnten – sicher könnte Markus seiner Tochter die nächste Flasche Bacardi ausreden, und dann die übernächste.
    »Du zuerst«, sagte Pop und kippte Markus gegen den Tisch.
    »Nein, Mann«, sagte der Torso. »Du zuerst.«
    »Du bist doch schon viel länger hier.«
    Markus befreite sich aus Murrays Griff. »Ich bestehe darauf.«
    Murray kletterte auf den Tisch. Jesus begoß ihn mit einer vollen Ladung. Julie hielt den Kopf ihres Vaters in der Armbeuge und setzte die Kelle an seine Lippen. Er schluckte den heiligen Trank des Vergessens. Wie viele Monate hatte er sie wohl ein halbes dutzendmal jeden Tag aus einer Plastikflasche mit Babynahrung gestillt? Trink, dachte sie. Trink alles aus, Pop.
    »Erzähl Markus von seiner Tochter«, sagte Murray.
    »Kann ich stolz auf sie sein?« fragte Markus.
    »Sie hat immer

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