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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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letztes gemeinsames Mittagessen war etwas Besonderes: Pepperoni-Pizza, kaltes Huhn, Blue Nun-Wein, gefüllte Pfannkuchen. »Ich werde wahrscheinlich immer ein Jersey-Girl bleiben«, sagte sie schließlich und riß ein Stück von der Pizza ab. »Ich verstehe jetzt auch, warum Pop das mit dem Leuchtturm laufen ließ. Es ist einfach gut, eine zweite Chance zu haben. Diesmal werd ich’s richtig machen. Den Hunger beenden, den Treibhauseffekt umkehren, den brasilianischen Regenwald wieder herstellen, die Atomarsenale zerstören – du wirst schon sehen.«
    »Nichts davon wird dir gelingen«, sagte Jesus ruhig und schob sich einen Pfannkuchen in den Mund.
    »Doch, wird es.« Sie biß in die Pizza.
    »Wyvern würde das niemals zulassen.« Jesus machte den Wein auf. »Denk nur nicht, du kommst hier als göttliches Wesen wieder weg.«
    »Was sagst du da?«
    Mit einem kurzen Rülpser kam der Korken aus der Flasche. »Keine Göttlichkeit mehr, Julie.« Pepperoni – scharf auf der Zunge. Kein göttliches Wesen mehr?
    Sie fühlte sich innerlich zerrissen, als ob die Hand Gottes in ihre Seele gegriffen und sie wie ein Ei zerbrochen hätte. Sicher, sie war nie dahintergekommen, wofür ihr diese Kräfte eigentlich gegeben waren, aber es waren immer noch ihre Kräfte, und einige wenige Male hatte sie die auch eingesetzt – bei der toten Krabbe, Timothys Augen, der Befreiung von Atlantic City –, und das Entzücken hatte tagelang angehalten. »Ich war immer ein göttliches Wesen«, protestierte sie. »Es ist das, was ich bin.«
    »Dann bleibst du also? Bitte, bleib da!«
    Dableiben. Verführerisches Wort. Aber nein. Sie war nicht tot. »Es ist das, was ich bin«, wiederholte sie, »aber ich kann es besser machen.«
    Jesus lächelte, roch an dem Flaschenkorken. »Wohl gesprochen. Ganz meine Schwester! Du bist mir sehr lieb.«
    »Was für Gläser nehmen wir?«
    Jesus zog die verbeulten Kellen aus dem Picknickkorb.
    »Wenn du stirbst, besorg ich dir ein Schild mit einem frühen Datum.« Er füllte die Kellen mit Blue Nun-Wein. »Ich will nicht, daß du Schmerzen hast.« Er legte die Hand an ihre Wange und hob dann die Kelle zum Toast.
    »L’chayim.«
    »L’chayim.«
    Sie stießen mit den Kellen an und tranken.
     
    Die Krebsstadt zog sich als byzantinische Metropolis an einer Kette aktiver Vulkane entlang. Ein wirrer Haufen krummer Wälle und verbogener Türme, die zahllosen Verwaltungsgebäude so dunkel und formlos wie die Lavabrocken aus den Kratern. Als Julies Kutsche durch das Haupttor fuhr, war eben ein Ausbruch in vollem Gang. Links und rechts des Tores zwei gigantische Kopien des Winged Victory, steinerne Totenschädel als Köpfe. Funken wirbelten wie Glühwürmchen über das zentrale Forum; Rauch bedeckte den Himmel. Auf den Betongehwegen und marmornen Stiegen standen Engel und Dämonen, die weit geöffneten Rachen himmelwärts gerichtet und fingen heiße Schlacke mit ihren schlangengleichen Zungen auf: Nahrung von oben, höllisches Manna.
    Anthrax saß auf dem Kutschbock. Der Wagen fuhr außer Reichweite des Vulkanausbruchs an Straßenverkäufern vorbei, die auf ihren Karren erlesenes Aas feilboten, raste dann durch einen Park, wo Gedenktafeln an große Augenblicke in der Geschichte des Teufels erinnerten – die Entwicklung der Cholera, das Dred Scott-Urteil, die Abschlachtung von 100.000 Zivilisten in Nanking durch die Japaner – und hielt endlich vor Wyverns Palast. Der lag hinter einem Zaun aus eisernen Speeren und ließ an eine Art hochkantgestelltes Labyrinth aus priapischen Türmen und wollüstigen Baikonen denken. Aus dem Wachhaus schaute ein affenähnlicher Engel heraus, erkannte Anthrax und meldete, Lord Wyvern sei bei der sonntäglichen Gartenarbeit. Der Dämon führte Julie durch ein hölzernes Spalier. Stacheldraht statt Weinranken.
    »Hallo, Andrew«, rief sie. »Besuch!«
    »Julie! Das ist eine Überraschung!« Der Teufel war munter dabei, einen Baum mit wurmigen Mangos zu beschneiden. Er winkte ihr mit der Baumschere zu. »Willkommen in Eden. Ja, das Eden. Nach dem Fall haben wir’s hier runtergebracht.« Er scheuchte Anthrax weg, streichelte eine dicke Tomate an einer spinnenartigen grünen Pflanze. »Wenn ich ehrlich sein soll, hab ich dich viel früher erwartet.«
    »Ich war glücklich in der Hölle«, gab Julie zu. Wirbel kalter Asche zogen wie kleine Tornados durch den Garten, die Mangos schaukelten in der Brise. Das Gras unter ihren Füßen zuckte unter den Marschmanövern ganzer Ameisenarmeen.

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