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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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versucht, mein Gewissen zu sein«, sagte Julie und nahm Pops Schild ab. Auf seiner Brust ein schaumiges Gebräu aus Droge, Eiter und Schweiß. »Ein undankbarer Job, das weiß ich jetzt. Ich hab sie sehr gern gehabt.«
    »Entschuldige.« Jesus deutete auf den fehlenden Unterleib von Markus Bass. »Du hast eine Tochter?«
    »Na, früher war mehr von mir da«, sagte Markus versonnen.
    »Hat Wyvern dich verstümmelt?«
    »Nein, Mann. Irgendein verrückter Reverend.«
    »Billy Milk«, sagte Murray.
    Julie schauderte wie die verbrannten Opfer, denen sie beistand. Milk, Milk, würde sie diesem Bastard denn nie entkommen? Als sie die Gelegenheit hatte, hätte sie ihn ertränken sollen.
    »Phoebe muß etwa – achtunddreißig sein?« fragte Markus. »Was macht sie so? Hat sie geheiratet?«
    »Ich glaube, sie ist im Filmgeschäft«, sagte Julie. »Sie ist mehr der ungebundene Typ.«
    »Du meinst wild? Temperamentvoll?«
    Leise glucksend setzte sich Murray auf. »Das ist typisch Phoebe. Schaute immer ein Schleudergummi aus der hinteren Hosentasche. Wie ein Schwanz sah das aus.«
    »Ich war genauso«, meinte Markus. »Hab meinen Eltern mal die Garage niedergebrannt. Wollte ’ne Mondrakete bauen.«
    »Ich mach mir Sorgen wegen der Trinkerei«, sagte Julie. Das war ihr so rausgerutscht. Sie zuckte zusammen. Verdammt. Jetzt würde der Mann nicht in Frieden ins große Nichts eingehen.
    »Sie… oh… sie…« – Markus stöhnte auf wie ein verzweifelter Stier – »sie trinkt? – Keine große Überraschung, eigentlich. Ihre Tanten waren beide Alkies. Die Krankheit vererbt sich in manchen Familien.«
    Jesus und Murray hoben die obere Körperhälfte des Schwarzen hoch und legten ihn auf den Tisch.
    »Komisch, ich bin Phoebe nie begegnet« – Markus lächelte, als er das Morphin auf dem Körper spürte –, »aber für mich ist sie immer noch mein kleines Mädchen.« Er verzog das Gesicht. »Trinkt sie sehr viel, Julie?«
    »Ich weiß nicht. Ich bin schon ziemlich lang hier.
    Phoebe war immer sehr stolz auf dich. Sie wußte alles über deine Karriere.«
    »Ich hoffe nur, niemand schickt sie zum Psychiater. Das weiß ich noch von meinen Schwestern her – einen Alkoholiker zu einem Schrumpfkopf zu schicken, macht genau soviel Sinn, wie einen Herzpatienten zu einem Dichter zu schicken.« Markus umklammerte mit beiden Händen Julies verbrannte Hand. »Du bist ihr doch eine gute Freundin gewesen, nicht wahr?«
    »Ich hab’s versucht.« Sie gab ihm das Morphin. »Und ich steck hier unten. Eine Schande.«
    »Ich dachte, du bist gar nicht tot.«
    »Ich fürchte, wir sind etwas hinter dem Zeitplan«, seufzte Jesus.
    Heimlich schlug sich Julie die Kelle ans Knie. Mit voller Absicht. Der Schmerz fuhr durch ihren Körper, durch ihr ganzes Sein. Sie war nicht tot. Und doch war sie hier…
    »Ich nehme nicht an, daß Georgina schon aufgetaucht ist«, sagte Murray. »Wäre großartig, sie wiederzusehen. Ich war schon immer irgendwie verliebt in sie.«
    »Sie lebt wahrscheinlich noch«, sagte Julie. »O Pop…« Dann die rasche Umarmung, menschliche Planeten, die einander erkennen, die Schwerkraft der Liebe entdecken. Vaters Körper war dünn und schwach, für sie aber stark genug. Immer noch der Körper zweier Eltern. »Ich liebe dich, Pop.«
    »Mir wird so komisch im Kopf«, sagte Murray. Langsam lösten sie sich aus der Umarmung. »Es dreht sich alles wie ein Kreisel. Ich liebe dich, Julie.«
    »Die Droge«, erklärte Jesus.
    »Der Schmerz wird schwächer«, keuchte Murray. »Wird wirklich schwächer. Unglaublich.«
    »Sie sind gestorben«, sagte Markus, als Murray ihn in den Schubkarren setzte.
    »Wer?« fragte Julie.
    »Meine Schwestern. Die Flasche hat sie umgebracht.«
    »Der Nächste!« sagte der Sohn Gottes.
    »Sholem aleichem, Pop«, flüsterte Julie.
    »Aleichem sholem«, antwortete er sanft.
    Murray packte die hölzernen Handgriffe und machte sich auf den Weg. Was ihr blieb, war dieser optische Eindruck, der letzte, wie sie wohl wußte; ein Bild, das sie hegen und bewahren würde, bis die Entropie auch an ihre Tür pochen würde: ein kleiner, gebeugter, alter Jude, der sich durch einen Höhleneingang hinausschleppte, dabei einen Schubkarren vor sich herschob, in dem aufrecht jener Mann steckte, der sie ein und für allemal davon überzeugt hatte, daß sie nicht ins Reich der Toten gehörte.
     
    »Mußt du wirklich gehen?« fragte Jesus.
    Schweigend ließ Julie ihren Blick über den Felsen zur Gießerei hinüberschweifen. Ihr

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