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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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oberste Lage einer ungeheuer großen Schichttorte.
    »Atlantic City hat sich verändert.«
    »New Jerusalem«, korrigiert Nick Shiner. »Haben sie vor sieben Jahren fertig gebaut. Ist für die Wiederkunft Christi« – er seufzt verdrossen – »vorausgesetzt, wir können genug Sünder verquanten.«
    »Ich nehm nicht an, daß sie die Miss America-Parade noch durchführen.«
    »Die was?«
    »Miss America-Parade.«
    »Das hier ist nicht Amerika, Ma’am.«
    Blendend weiße marmorne Wälle leuchten in der Dunkelheit. Statt das ›Nugget‹, das ›Tropicana‹, ›Sands‹, ›Caesar’s‹ und die anderen alle wieder einzeln aufzubauen, haben sie anscheinend die ganze Stadt in ein einziges riesiges Kasino umgewandelt. Die Gebäude sind grell geschmückte Christbäume, konische Strukturen mit silbernen Flutlichtern und goldgetönten Fenstern.
    Nick Shiner läßt dich an der Huron-Kreuzung raus und erinnert dich dran, morgen abend zum K-Markt in Somers Point zu kommen. »Und tun Sie sich ja keinen Zwang an. Werfen Sie ein paar Steine. Das wirkt Wunder.«
    Du wanderst über die Brücke zum Harbor Beach Boulevard runter. Die stattlichen Blöcke sind in Nebel gehüllt. Unter einer Straßenlampe steht ein nietengespickter Panzerwagen. Mündungen von Schußwaffen schauen raus, schwertschwingender Engel auf der Tür. Zwei Polizisten wechseln einen Vorderreifen. Mit ihren sparsamen Bewegungen im grünen Ganzkörperschutz gleichen sie Chirurgen bei einer unbegreiflichen, surrealistischen Operation.
    Es wird kühl. Mieser Jazz vom Bonita Tideway her. Und dann hörst du die Brecher. Der Atlantik, wie er sich gegen den Kontinent wirft. Du fühlst dich besser. Du rennst zum Pier an der 44., düster liegt er unter dem Nebelmond vor dir. Du ziehst das gestohlene T-Shirt aus, läufst ans Ende des Piers und springst rein. Ah, das ist dein alter Planet, die weite, verläßliche See, die über dir wie eine kalte Decke zusammenschlägt, den Dreck von Tylers Preiselbeersumpf runterwäscht.
    Aus Gewohnheit atmest du ein. Sofort verkrampft sich der Körper. Salzwasser statt Luft. So ist das also: Wyvern hat dich wirklich sterblich gemacht. Gut oder schlecht? Unter Husten und Würgen kämpfst du dich an die Oberfläche, krabbelst schwerfällig auf den Pier. Keuchend liegst du auf den nassen Planken. Die göttliche Macht ist weg, noch nicht einmal genug da für einen kurzen Regenschauer oder um eine Warze verschwinden zu lassen. Gut oder schlecht? Du ziehst das T-Shirt an, reibst dich trocken. Gänsehaut. Fühlt sich an wie ein Reibeisen. Du wendest dich nach Süden, am Strand lang. Bin ich dafür bereit? fragst du dich. Bereit für ein Leben ohne Kiemen, ohne die Taube des Heiligen Geistes in der Brust, ohne göttliche Kraft im Gebein? Bin ich bereit, nur sterbliches Fleisch zu sein, sonst nichts?
     
    Nebelschwaden zogen um den hochragenden, mondbeschienenen Turm auf Angel’s Eye. Pops Leuchtturm war wie ein Redwood, dachte Julie, rund und ewig. Über den Graben zwischen Insel und Festland, den sie vor ihrem Abstieg zur Hölle geschaffen hatte, führte nun eine eiserne Fußgängerbrücke. Steckte zweifellos Tante Georgina dahinter – wenn man eine Brücke braucht, baut man sie aus anständigem Eisen. Sie kletterte über die Felsen, ging über den Rasen, suchte die Fenster nach Lebenszeichen ab, aber alles schien so tot und dunkel wie Billy Milks rechtes Auge.
    Im stillen Mondlicht die Haustür, tröstlich die Maserung, vertraut die Astlöcher. Altgewohnter Bestandteil ihres ganzen Lebens, diese Tür, immer wiederkehrend wie der Rhythmus vertrauter Musik. Du kamst von der Schule heim, und sie war da, die Tür. Du kamst heim von einer Verabredung – sie wartete. Die Tür. Sie machte sie auf.
    Angel’s Eye war ausgeweidet worden wie ein Fisch. Teppiche, Täfelung, Lampen – alles weg. Von den fünftausend Büchern, die dem Leben ihres Vaters Halt gegeben hatten, war nichts übrig; nur dort am Herd, wo Spinoza, der Kater, die tote Krabbe deponiert hatte, lag ein einzelner Band. Sie kam näher, schaute auf den Titel. Irgendwas über die Ewigkeit.
    Ein grellweißer Lichtstrahl aus der Küche, mitten in ihre aufgerissenen Augen. Hätte sie fast umgeworfen.
    »Halt!« Verschliffene, männliche Stimme. »Halt, stehenbleiben!« Klang betrunken. Schock und Entrüstung – wer unterstand sich hier »Halt!« zu plärren? Das war das Haus ihres Vaters! Sie ging entschlossen auf ihn zu, nahm das Buch auf. Ihr geistlicher Paß – die Ewigkeit? von

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