Die Einöder
zu dir gaukelte und mir dadurch die Gnade der mächtigen Fürsten erwarb.“
Der Buntgekleidete starrte den Alten zwei, drei Sekunden lang drohend an. „Dennoch“, zischelte er sodann, „will ich dir nicht abraten! Nein, das möchte ich keineswegs! Ich wollte dir lediglich klarmachen, daß sich die Stadtmenschen belialischem Sündentreiben hingeben, und daß Raubbestien und Schmeißfliegen zwischen dir und dem Gottesgeist stehen! Und nun mußt du selbst entscheiden, ob du hierbleiben oder gehen möchtest – und ich gebe dir den wohlbedachten Rat, dies völlig nach deinem Belieben zu halten.“
Der Fremde feixte und zog den regenbogenfarbenen Radmantel enger um seine mageren Schultern. Der Einödbauer umklammerte mit verkrümmten Fingern die Tischkante, als suchte er dort Halt; sein Weib hatte sich an ihn gedrückt, streichelte mit fahrigen, unsicheren Bewegungen den Unterarm ihres Gemahls und ließ den furchterfüllten Blick nicht von seinem verspannten Antlitz.
Schweigen lastete in der Küchenstube; endlich fragte der Wanderer: „Also, wie steht’s?“
Der Einöder antwortete nicht; er seufzte nur. Unmittelbar darauf sprengte sein horniger Fingernagel einen Splitter vom Rand der hölzernen Tischplatte ab; das trockene, hart knallende Geräusch schien im ganzen Raum widerzuhallen.
Verstehend nickte der Fremde. „Entweder wirst du in den Süden aufbrechen, oder du wirst es lassen“, sagte er leichthin. „Ich aber verrate dir eins: Als ich im Heiligen Land gaukelte, da liebte ich die Huren und alle, die es in ihrer Angst mit ihnen trieben. Für eine Zeit, die ich heute freilich nicht mehr so genau zu messen vermag, wurde ich selbst zum Sünder. Dann jedoch packte mich der Ekel vor meiner eigenen Schande, und ich floh aus der Stadt; dennoch ist mir ein wichtiges Wissen geblieben: Die Hurerei oder die Liebe, im Grunde ist’s einerlei, erleichtert manchen Weg. Aber du darfst nicht darauf zählen. Denn der Geist Gottes und die Aasfliegen sind oft ein und dasselbe…“
Grinsend hatte der Wanderer den letzten Satz hervorgestoßen; jetzt verwahrte er seine Kerosinlampe im Kasten an der Rückseite seines Karrens und nahm den Zugstrick des Wägelchens auf. Als der Kolibribunte den Karren herumzerrte, polterten die sich sperrenden Räder dumpf über die Bodendielen der Küchenstube. Die grünen Glaskugeln des Rosenkranzes klirrten glockenhell gegen den grauen Stahl der Druckflasche; zugleich jedoch drang ein schrilles, häßliches Kreischen aus einer der Achsnaben des Wägelchens.
„Lebt wohl – oder auch nicht“, feixte der Fremde; sodann zog er den Karren zur Tür und stieß diese mit dem Fuß auf. Sofort wehte der schweflige Geruch der vergifteten Atmosphäre, die draußen über dem Gebirgsland lastete, in den Raum. Die beiden Alten begannen zu husten; eilig schloß der Einödbauer die Küchentür wieder, und gleich darauf hastete das Paar zu einem Fenster seitlich der Türwand, um ins Freie hinauszuspähen.
Aber schon verschlangen die letzten, wirbelnd dahinstiebenden Ausläufer des Sandsturmes, welcher die Finsternis mit sich gebracht hatte, den Wanderer, und nur sein regenbogenfarbener, schattenhaft flatternder Umhang schien noch einen flüchtigen, spöttischen Gruß zum Haus senden zu wollen.
Der Einöder und sein Weib tappten zum Küchentisch zurück, wo noch immer eine Ahnung von reiner Atemluft hing. Doch dieser dünne, die Sinne belebende Hauch verflüchtigte sich nun schnell, und wenig später wurde den beiden Alten das Luftholen erneut schwer. Neuerlich überlagerte dumpfe Müdigkeit ihr Denken und Empfinden – und zuletzt, als sich die fahle Abenddämmerung über das Tal des Schwarzen Regen senkte, hätte das betagte Paar nicht mehr zu sagen gewußt, ob der Besuch des Kolibribunten Realität oder Halluzination gewesen war.
Die vierte Vision
Der Granitrundling
Obwohl die beiden Alten in ihren Dämmerzustand zurückgesunken waren, blieb in ihren halbbetäubten Gehirnen die Erinnerung an den Fremden und dessen Atemgeschenk bestehen. Denn das Erscheinen des Wanderers hatte im tristen, hoffnungslosen Dasein des Paares eine aufwühlende Zäsur gesetzt; der Fremde hatte die Kunde von einer anderen, größeren Welt zu den einschichtig dahinvegetierenden Alten gebracht. Fragmentarisch war vieles von seinen seltsamen Äußerungen und Handlungen im Gedächtnis des Einödbauern und seines Weibes haften geblieben, und nun vermengten sich im dumpfen Reflektieren der beiden Alten jener so manisch vom
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