Die Einöder
bis er auf Eintragungen stieß, die ihn stutzen ließen, weil er dort auf einmal Namen und Datumsangaben fand, die er vage in seiner Erinnerung bewahrt hatte.
Er entdeckte die Vor- und Familiennamen seiner Urgroßeltern, entzifferte ihr Hochzeitsdatum und dazu die Aufzeichnungen über die Geburten mehrerer Kinder; als er die Buchseite umschlug, las er das Wort Stalingrad und betrachtete lange das vergilbte Sterbebild eines blutjungen Mannes in Uniform, das in der Blattmitte eingeklebt war. Er entsann sich, daß dieser gefallene Soldat ein älterer Bruder seines Großvaters gewesen war, und gleich darauf, abermals eine Seite weiter, fand er den Heiratseintrag seiner Großeltern.
Mit feuchten Augen buchstabierte er den Namen des Großvaters; er tat es, weil er diesen Graubärtigen einst, vor sehr langer Zeit, besonders geliebt hatte – und dann plötzlich glaubte er noch einmal eine Szene aus seiner Kindheit vor sich zu sehen: Wie ihm der Großvater im Schwarzen Regen das Schwimmen beizubringen versucht hatte. Er, der erst acht- oder zehnjährige Bub, war an der Hand des Graubarts in den Fluß gewatet; tiefer und tiefer ins saugende und strudelnde Wasser hinein, und unvermittelt, als ihm die gurgelnde Flut bereits die Brust umspült hatte, war er von Furcht gepackt worden. Ängstlich, die Zehen ins rutschige, trügerische Geröll des Flußgrundes gekrallt, hatte er sich an das wurzelnde Bein des stämmigen Mannes an seiner Seite geklammert; mit festem Griff hatte ihm der Großvater Halt geschenkt – und jetzt, da er sich mit unglaublicher Intensität wieder daran erinnerte, vermeinte er, ganz wie damals, das gutmütige Lachen des Graubärtigen zu hören.
Eine ganze Weile saß der Einödbauer in verträumter Versunkenheit da; endlich schlug er die nächsten Buchseiten auf und erkannte dort Eintragungen seines Vaters. Zunächst handelte es sich um familiäre Aufzeichnungen; der Einöder fand die Notizen, welche von seiner eigenen Geburt und der seiner Geschwister kündeten, und ebenso fand er die Sterbedaten seiner Großeltern. All dies war in sauberer, gut ausgeformter Schrift niedergeschrieben – doch später wirkten die Sätze zunehmend so, als wären sie mit unruhiger, fahriger Hand von einem Menschen hingekritzelt worden, der mit sich selbst uneins war.
Und der Inhalt des nunmehr Mitgeteilten entsprach diesem irgendwie verstörten, unguten Schriftbild, denn jetzt, in den letzten Jahren des 20. und den ersten des 21. Jahrhunderts, war immer häufiger von bedrohlichen Entwicklungen die Rede: von saurem Regen und dem dadurch verursachten Waldsterben, vom Absinken des Grundwasserspiegels auf den Wiesen und Feldern, von Mißernten und fürchterlichen Unwettern, wie man sie früher nicht gekannt hatte; außerdem von Sommern, in denen die Hitze mörderisch wie nie brütete, sowie von Wintern, in denen der Schnee entweder in ungeheuren Massen fiel oder aber auf widernatürliche Weise ganz ausblieb, so daß das Waldgebirge selbst im Dezember und Januar noch mattgrau und fahlgrün wie sonst nur im Spätherbst dalag.
Auch berichteten die Einträge von rapide steigenden Steuern und damit einhergehendem dramatischen Werteverfall des bäuerlichen Grundbesitzes. „Unser Einschichthof“, so war unter der Jahresangabe 2007 zu lesen, „ist gerade noch für einen Bettel gut, und die Landwirtschaft Bayerns und Deutschlands wurde durch eine völlig verfehlte Politik derart brutal zerstört, daß wir Bauern mehr und mehr unsere Lebensgrundlage verlieren und unser Volk elend verhungern muß, falls von draußen einmal nichts mehr hereinkommt!“ Ebenso beklagte der Schreiber einen empfindlichen Rückgang des Fremdenverkehrs im Waldgebirge mit den Worten: „Viele Leute haben durch den Globalisierungswahn und den verfluchten amerikanischen Raubtierkapitalismus, der jetzt weltweit sein Unwesen treibt, ihre Arbeitsplätze verloren, und deshalb fehlt ihnen nun das Geld zum Verreisen!“ – aber von diesen Aussagen begriff der im flackernden Kerzenschein am Küchentisch sitzende Alte wenig; er wußte nicht mehr, was Agrarpolitik, Globalisierung, Kapitalismus oder Tourismusindustrie einmal gewesen waren, und daher las er achselzuckend über die betreffenden Sätze hinweg.
Danach betrachtete er sinnend die einst von ihm selbst eingetragenen Sterbedaten seiner Eltern auf der letzten beschriebenen Seite des ledergebundenen Büchleins, und schließlich blätterte er zu der Stelle zurück, wo seine eigene Geburt vermerkt war. Er
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