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Die Einöder

Die Einöder

Titel: Die Einöder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Böckl
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entzifferte die beiden zusätzlichen Vornamen, die er trug und die er längst vergessen hatte; selbst sein Rufname, den er schon seit Wochen oder vielleicht sogar Monaten nicht mehr aus dem Mund seiner fast völlig verstummten Frau vernommen hatte, erschien ihm fremdartig.
    Mit brennenden Augen schlug er die Seite mit seinem Geburtseintrag um – doch dadurch erreichte er nur, daß er seinen Namen gleich nochmals entdeckte. Daneben war der Mädchenname seines Weibes hingemalt; unter den beiden Namenszügen klebte ein goldglänzendes Bildchen, das zwei Vögel zeigte, welche mit ihren Schnäbeln einen Hochzeitskranz hielten, und wiederum darunter stand das Datum, an dem er und seine Frau die Ehe geschlossen hatten.
    Er versuchte sich des Hochzeitstages zu entsinnen, aber es war ihm unmöglich. Die vielen Jahre, die seitdem vergangen waren, schienen jegliche Erinnerung an das, was ihm einst alles bedeutet hatte, ausgelöscht zu haben. Er wußte bloß noch, daß sein Weib und er Jahrzehnt um Jahrzehnt die Mühsal des Daseins miteinander durchgestanden hatten: jene von Jahr zu Jahr mehr anwachsende Plage des Lebens, die sie irgendwann in dumpfes, fast völlig empfindungsloses Dahinvegetieren hatte abstürzen lassen. Von dem Eheversprechen, das er und seine junge Frau sich vor Jahrzehnten gegeben hatten, war einzig der dunkle Teil geblieben; Freude und Leid, so hatten sie einander damals geschworen, wollten sie zusammen tragen – doch letztlich waren sie dann nur noch von andauerndem Leid gequält worden, und Freude kannten sie nicht einmal mehr in ihren Träumen.
    Wenigstens aber – jetzt auf einmal konnte sich der Alte wieder entsinnen – hatten sie in den ersten fünf, zehn Jahren nach ihrer Hochzeit manchmal noch unbeschwerte oder sogar frohe Zeiten genießen dürfen. Zwar waren diese Zeitabschnitte angesichts des sich immer mehr ausbreitenden Niedergangs der Landwirtschaft, der langsam verkarstenden Erde, der allmählich sterbenden Wälder und der zunehmenden Abwanderung der bäuerlichen Nachbarsfamilien spärlich gesät gewesen, doch immerhin waren dem jungen Paar diese trotz allem hoffnungsvollen Wochen oder gar Monate vergönnt worden: Zeiten, in denen die Liebe und die berauschende Lust auf den anderen stärker als die unterschwellig wühlenden Ängste gewesen waren.
    Und nun wurde dem grübelnd am abgewetzten Küchentisch hockenden grauhaarigen Mann auch klar, daß es ihm diese seltenen, von glücklicher Zweisamkeit erfüllten Zeitspannen ermöglicht hatten, in den darauffolgenden Jahrzehnten an der Seite seines Weibes auszuharren. An der Seite seiner von Jahr zu Jahr bedrückter wirkenden Gemahlin, die ihm während der ersten Zeit ihrer Ehe die äußerste Verzückung geschenkt hatte: die Momente des absoluten Einswerdens und Einklanges, in denen aus den Augen der jungen Frau schrankenlose Hingabe geleuchtet und sich auf ihrem Antlitz jener zwischen höchstem Lustgenuß und wildfreudigem Schmerz changierende Ausdruck gemalt hatte, welcher den Gipfel ihrer Ekstase anzeigte.
    Als der Alte daran dachte, begannen ihm Tränen über die Wangen zu rinnen; lautlos weinte er, dann plötzlich schloß er das Buch mit dem rissigen Ledereinband und stand abrupt auf. Jäh hatte ihn drängende Sehnsucht nach seinem Weib erfaßt: nach der von tausend Entbehrungen gezeichneten Greisin, die keuchend auf der armseligen Bettstatt in der Kammer nebenan schlief. So leise wie möglich, um sie nicht aufzuwecken, begab sich der Mann zu seiner Frau und kroch zu ihr unter die zerschlissene Zudecke. Behutsam suchte er Körperkontakt; nachdem er ihn gefunden hatte, tastete er mit der Hand nach der einen Brust seines Weibes, und im selben Moment, da seine Finger den faltigen, ausgezehrten Hautsack sanft umschlossen, empfand er so etwas wie ein Quentchen lange vermißter Geborgenheit.
    Jetzt wollte auch er sich in den Schlaf gleiten lassen – aber ehe es ihm gelang, glaubte er wiederum das Hochzeitsdatum in dem ledergebundenen Büchlein vor sich zu sehen. Und er begann zu rechnen und erinnerte sich daran, daß er und seine Frau sehr früh geheiratet hatten; er war damals gerade Anfang zwanzig gewesen, und seine Braut hatte kurz zuvor erst ihren achtzehnten Geburtstag gefeiert. Gleich darauf wurde ihm bewußt, daß seit der Eheschließung ungefähr vier Jahrzehnte verstrichen waren; nun überschlug er die Zeit mühsam noch einmal, und zuletzt dachte er: Unsere Hochzeit liegt wohl genau vierzig Jahre zurück!
    Er sinnierte; es war ihm, als

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