Die Einöder
Buntgekleideten beschworene Gottesgeist und das verheißungsvolle Zischen aus der grauen Stahlflasche mit den Gedankenbildern von den Huren in den Städten des Tieflandes und denen, die es schamlos mit ihnen trieben. Dies wühlte den Einöder und dessen Weib in ihrer mentalen Verwirrung auf; mehr noch aber bewegte sie das, was der Wanderer vom göttlichen Odem gesagt hatte: Daß es den Auserwählten unter den Stadtmenschen möglich sei, die reine Atemluft herzustellen. Und diese Botschaft überlagerte im langsam dahinschlierenden Denken des Paares allmählich alles andere; zuletzt dann wurde sie zur Essenz des auf so wundersame Weise Erlebten und bewirkte eine Art hoffnungsvoller Bewußtseinsveränderung bei den Bewohnern des Anwesens am Schwarzen Regen.
Im Verhalten der Frau zeigte sich diese Veränderung freilich nur insofern, als gelegentlich ein kaum merkliches Lächeln, in dem eine Ahnung von verträumter Sehnsucht lag, über ihr runzliges Antlitz huschte. Im Innersten des Mannes hingegen rumorte es stärker; während das Paar im Schein einer mühsam flackernden Kerze am Küchentisch saß, wurde der Einödbauer zunehmend unruhiger, und manchmal stieß er Wörter oder Satzfetzen hervor, die er aus dem Mund des Fremden gehört hatte.
Etwa zwei Stunden nach Einbruch der Nacht sodann, als sein Weib ihn dazu bewegen wollte, das armselige Nachtlager aufzusuchen, weigerte er sich, seiner Frau in die Schlafkammer zu folgen. Beinahe schroff gab er ihr zu verstehen, daß sie allein gehen sollte; nachdem die Alte mit schleppenden Schritten verschwunden war, blieb er noch lange am Eßtisch mit der abgescheuerten, teilweise verkohlten Platte sitzen. Zusammengesunken, das Kinn in die Hände gestützt, hockte er da; sinnierte und sinnierte und bemerkte in seinem brütenden Nachdenken kaum, wie die Luft in der Küchenstube zunehmend zäher und sauerstoffärmer wurde. Gegen Mitternacht schließlich befiel den Einöder, wie oft um diese Zeit, quälende Atemnot, die sowohl physisch als auch psychisch bedingt war; wie stets in der dunkelsten Nachtstunde begann er zu keuchen – doch diesmal, weil er entschlossen gegen seine asthmatische Schwäche ankämpfte, überwand er den Anfall rascher als sonst.
Und dann – er wußte im Grunde gar nicht, was ihn trieb – stemmte er sich ächzend vom Tisch hoch, griff nach dem Kerzenhalter und tappte schwerfällig ins Treppenhaus hinaus, wo es unter der Stiege, die in den Oberstock hinaufführte, eine fast vergessene Abseite gab. Als der Einödbauer das knarrende Türchen öffnete, hatte er keine genaue Vorstellung davon, wonach er eigentlich suchte; unsicher tastete seine Hand zwischen abgelegten Kleidern, angeschlagenem Geschirr und sonstigen unbrauchbar gewordenen Dingen herum. Ein henkelloser Milchkrug, den seit Menschengedenken niemand mehr benutzt hatte, kippte scheppernd um; mürber Stoff raschelte unter den Fingern des Mannes; etwas Sperriges, das drahtige Spitzen besaß, ritzte schmerzhaft seine Haut.
Der Einöder zuckte zurück; gleich darauf aber fing er neuerlich in dem Gerümpel zu wühlen an – und plötzlich spürte er etwas Ledernes, das da und dort spröde aufgesprungen war, unter seinen Fingerkuppen. Im selben Augenblick wurde ihm wie in einer jähen Erleuchtung klar, daß er von Anfang an nach diesem Gegenstand gesucht hatte. Der Einödbauer packte fester zu und zog seinen Fund unter etwas Hölzernem, das ihn zur Hälfte bedeckte, hervor. Sodann drückte er das in Schweinsleder gebundene Büchlein, das halb unter dem Holzobjekt gelegen hatte, in einer freudigen Aufwallung an seine Brust, schob das Türchen der Rumpelkammer wieder zu und ging in die Küche zurück.
Im Schein der Leuchterkerze und einiger weiterer Kerzenstummel, die er zusätzlich auf die Tischplatte gepfropft hatte, öffnete der Einöder das uralte Buch: die Hofchronik, welche am Ende des Dreißigjährigen Krieges angelegt und danach von Generation zu Generation weitergeführt worden war. Die verblaßten Schriftzüge auf den ersten zehn, zwanzig Seiten waren nur schwer zu entziffern; trotzdem vermochte der Einödbauer Bruchstückhaftes zu lesen: Aufzeichnungen über einen Friedensschluß in Westfalen, einen Kaiser namens Napoleon, einen Strom, der Beresina hieß, sowie über einen König, der in einem anderen, bayerischen Gewässer ertrunken war. All dies sagte dem Einöder jedoch wenig oder gar nichts und verwirrte ihn nur; deshalb überblätterte er langsam die nächsten dreißig, vierzig Seiten –
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