Die Einöder
stieß er ein erregtes „Da ist es!“ hervor; sodann kletterte er mühsam nach oben. Schwer atmend erreichte er die Felskuppe und kroch weiter zu der Gesteinsspalte, aus welcher früher die Farne gesprossen waren. Genau hier hatte er sich als Zwölf- oder Dreizehnjähriger unter den leise schwingenden Wedeln versteckt, um sich seinen Wachträumen von fremden, exotischen Welten hinzugeben; selbst jetzt, ein halbes Jahrhundert später, kam ihm der Platz noch seltsam vertraut vor – und dann auf einmal spürte er, daß ihm das Nachdenken hier intensiver als an jedem anderen Ort möglich sein würde. Die Erinnerung an die unbeschwerten Tage seiner Jugend, an die duftenden Pflanzen und an den breit dahinströmenden Fluß würde ihm helfen, eine Antwort auf die Frage zu finden, die ihn seit seinem nächtlichen Grübeln umtrieb: auf die Frage, wie er seiner Frau für vierzig gemeinsame Ehejahre danken konnte.
Lange saß der Einöder neben der Felsspalte, sinnierte und schaute dabei zur Hofstätte hinüber. Er sah sein Weib zum Ziehbrunnen gehen; er sah, wie die Alte den Kübel hinabließ und ihn wieder hochwand. Eine Stunde danach sah er, wie seine Frau den Pfad zu dem ehemaligen Waldstück zurücklegte, wo sie und er die Wurzeln zu ergraben pflegten; dann sah er die Alte mit krummem Rücken daknien und im Boden wühlen. Sein Mitleid mit ihr bewirkte, daß er plötzlich selbst Rückenschmerzen verspürte; es drängte ihn, seiner Frau, die sich derart schinden mußte, zu Hilfe zu eilen – doch er unterdrückte diese Regung, auch wenn ihm das Herz deswegen weh tat, und hing weiter seinen grübelnden Gedanken nach.
Er dachte an die Hochzeit vor vier Jahrzehnten, als er und seine hübsche Braut in der Kirche des Pfarrdorfes geheiratet hatten; er erinnerte sich an die Gesichter der Verwandten und Freunde, die damals dabeigewesen waren: Gesichter, die trotz der allgemeinen Sorge wegen der fortschreitenden Zerstörung der Natur und des damit verbundenen wirtschaftlichen Niederganges noch heiter gewesen waren. Gleich darauf schrillte die Zeit vierzig Jahre vorwärts und in die Gegenwart herauf; jäh entsann sich der Einödbauer wieder des Wanderers, und im nächsten Moment glaubte er, die verworrenen, rätselhaften Reden des Buntgekleideten noch einmal zu vernehmen.
Von zahlreichen überlebenden Menschen, die in den Stromtälern des Flachlandes hausten, hatte der Fremde erzählt; auch davon, daß die Donau sogar noch ein Rinnsal fließenden Wassers führen sollte. Ebenso hatte der Wanderer von Huren gesprochen und von Männern, die es schamlos mit den Dirnen trieben; außerdem hatte der Kolibribunte gestanden, vor den Fürsten des Tieflandes gegaukelt zu haben. Schließlich hatte der Wanderer berichtet, daß er von den Herrschern, welche in der großen Donaustadt regierten, den erlösenden Odem erhalten hätte: den Gottesgeist in der stählernen Flasche – und als sich der Einöder an diese ungeheuerliche Mitteilung erinnerte, vermeinte er neuerlich vor sich zu sehen, wie sein Weib in der Küchenstube den Sauerstoff aus der Atemmaske getrunken hatte, und wie ihr Antlitz dabei wieder rosig und jung geworden war.
Der auf dem Granitrundling kauernde Alte entsann sich des grenzenlosen Glücksgefühls, welches seine Frau und ihn dank des Odemgeschenks aus der Metallflasche erfüllt hatte; erneut glaubte er die verzückt strahlenden Augen seiner Gemahlin zu sehen – und diese Imagination löste urplötzlich die Erleuchtung im Gehirn des Einödbauern aus.
Ich werde Atemluft für meine Frau holen! dachte er. Damit will ich ihr all das vergelten, was sie in den vier Jahrzehnten für mich getan hat! So kann ich sie beschenken, kann noch einmal Freude in ihr und mein Leben bringen! Die Vorstellung, den Odem ins tote Bergland zu schaffen, begeisterte ihn; er sprang auf, richtete den Blick nach Süden und malte sich aus, wie er dorthin wandern würde: durch das öde Felsgebirge in Richtung der Donauebene, Kilometer um Kilometer, Tag für Tag, bis er das Tiefland und die große Stadt dort unten erreicht hatte. Irgendwann würde er dort ankommen, ungeachtet der Wirbelstürme und der schwefligen Wolken, aus denen Hagel oder Giftregen fegen konnten; er würde sich vor alldem nicht fürchten – und ebensowenig vor dem sagenumwobenen Riesenluchs, von dessen bestialischer Bösartigkeit er und sein Weib manchmal in schlaflosen Nächten geflüstert hatten.
„Ja, ich werde die Atemluft für meine Frau holen!“ sagte er nunmehr laut und
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