Die Einöder
Zärtlichkeit Abschied von seinem Weib nahm, befand sich der Wanderer bereits weit im Norden: in jener Region des toten Gebirges, wo einstmals die schier endlosen Forste des tschechischen Böhmerwaldes gerauscht hatten. Der Vollmond bildete in dieser Nacht einen gallegrünen Hof inmitten tiefhängender Wolken, und das Bergland, das auf so widernatürliche Weise vom Mondlicht erhellt wurde, wirkte noch sehr viel wüster, schroffer und zerklüfteter als die Gegend am Schwarzen Regen.
Steten Schritts zog der Buntgekleidete durch die fahlgrüne Finsternis dahin; obwohl schon die Mitternachtsstunde angebrochen war, fühlte er sich nicht müde, denn Schlaf brauchte er, der von Ort zu Ort Getriebene, nur selten. Manchmal, wenn er kurz stehenblieb und die Atemmaske anlegte, um sich zu stärken, dachte er, daß er die Welt womöglich bereits seit Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden so durchstreifte: zeitweise als Narr unter den Menschen gaukelnd, zeitweise in der Einsamkeit den namenlosen Gott suchend. Auf verlassenen Pfaden, die nie einen Anfang und nie ein Ziel gehabt zu haben schienen, war er unablässig unterwegs gewesen; unendlich viel hatte er als rastlos Dahinirrender erlebt, und all dies hatte sich in seinem Gedächtnis eingegraben – doch an das Wichtigste vermochte er sich nicht zu erinnern: Wo und wann er seine ruhelose Wanderung einst begonnen hatte.
Andererseits erinnerte er sich mit großer Deutlichkeit an so manches, was gewöhnlichen Menschenwesen, deren Wahrnehmungsfähigkeit von den kläglichen Fristen ihrer jeweiligen irdischen Daseinsspannen beschränkt wurde, verschlossen war. An grenzenlose, fast noch unberührte Urwälder beispielsweise, welche das Mittelgebirge im Herzen Europas früher von seinem südlichen Saum entlang der Donau bis hinauf zu den Randebenen des Böhmischen Kessels bedeckt hatten; dazu an Sakralhaine, die zu Heiligen Zeiten von begnadeten Priesterinnen und Priestern aufgesucht worden waren; an Bäume, Quellen, Seen, Höhlen und Felsen, welche den uralten, später fatalerweise aus der menschlichen Erkenntnis vertriebenen Göttinnen und Göttern geweiht gewesen waren; an Händler auch, die Bronze, Bernstein und Salz mit sich getragen hatten; schließlich an fellbekleidete Bären- und Wolfsjäger sowie an Rodungsdörfer, die sich wie schutzsuchend in kleine Ausbuchtungen an den Säumen des Waldgebirges geschmiegt hatten.
Wenn der Wanderer an die verschwundenen Gottheiten dachte, spürte er, wie verlorene Weisheit und tiefer Einklang mit dem ewigen kosmischen Dasein ihn erfüllen wollten. Aber niemals vermochte er sich dem Heranwehen der spirituellen Erleuchtung; diesem alles klärenden Hauch, welcher von der allumfassenden Muttergöttin und den vielen sonstigen weiblich, männlich oder anderweitig gearteten Erscheinungsformen des Göttlichen ausströmte, wirklich zu öffnen. Denn diejenigen, von deren fernem Samen er stammte, waren des alten Wissens verlustig gegangen und hatten es nicht an ihre Nachfahren weitergegeben, und deshalb mußte der Buntgekleidete ein gaukelnd Umherirrender und ein verzweifelt Suchender bleiben. Doch immerhin wurden ihm zuzeiten die dunklen Erinnerungen zuteil: die Gedächtnisbilder, die durch seinen Kopf wirbelten gleich einem tausendfacettigen, kaleidoskopischen Feuerwerk – und wenn diese Bilder wieder wichen, wunderte er sich darüber, daß das Land, welches er jetzt schon seit Wochen durchstreifte, so leer und abgestorben war; so fürchterlich geschlagen, obwohl es doch einstmals menschliches, tierisches und pflanzliches Leben in überreicher Vielfalt getragen hatte.
In solchen Augenblicken, wenn ihm das ganze apokalyptische Ausmaß der Zerstörung bewußt wurde, hätte der Wanderer vor Schmerz aufschreien mögen. Aber er verscheuchte die Seelenpein dann jedesmal, indem er sich innerlich blitzschnell verwandelte und zum indifferenten Narren wurde; zum Narren, dessen Aufgabe es nicht war, sich das Gehirn zu zermartern, um einen Sinn in all der sinnlosen Vernichtung zu finden. So schützte er sich, und nur so schaffte er es, die Kraft aufzubringen, die es ihm erlaubte, auf seinen verworrenen Pfaden weiterzuziehen: ein ruheloser Wanderer mit einem nackten und einem gauklerisch gestiefelten Bein, dessen heidnische Ahnen vor Urzeiten, in geistig ungleich höherstehenden Epochen, vielleicht mit griechischen Faunen, germanischen Trollen oder keltischen Waldgeistern verbunden gewesen waren, und hinter dem her am ausgefransten Strick das zweirädrige
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