Die Einöder
Wägelchen mit dem chemisch hergestellten Lebenselixier rumpelte.
Seinen Karren mühsam und dennoch stetig vorwärts zerrend, kämpfte sich der Kolibribunte unter gallegrünem Vollmondhof durch die Steinwüste des einstigen Böhmerwaldes – und ahnte dabei nicht, daß der Tod auf ihn lauerte: der Tod in Gestalt jenes sagenumwobenen Raubtiers, an dessen bestialische Bösartigkeit der Einöder gedacht hatte, nachdem in ihm der Entschluß herangereift war, den lebensspendenden Odem aus der Donaustadt zu holen.
Der Riesenluchs war das letzte, noch existierende Großtier im ehemaligen Waldgebirge. Möglicherweise hatte sich seine Gattung jahrhundertelang in irgendeiner versteckten Bergregion erhalten können; vielleicht stammte das wolfsgroße Raubtier auch aus einer entfernten, östlichen Gegend, oder aber es war eine mutierte Ausgeburt der vom Menschen verursachten Umweltkatastrophe. Auf jeden Fall jedoch gab es den Riesenluchs: den mageren, heißhungrigen Gelbflankigen, den Faucher zwischen nackten Felsen, die reißzähnige Lefze, den Würger mit muskelstarkem Leib und katzenrundem Schädel, den Unerbittlichen mit den langen, zuckenden Haarpinseln an den Ohrenspitzen; die Raubbestie, deren Schnellkraft auf das Leben hin trotz der Agonie des Berglandes ungebrochen war.
Schon von weitem hatte der Riesenluchs den Wanderer gewittert; jetzt lauerte er auf der flachen Kuppe einer Steinschroffe am Rand des Steigs, auf welchem der Buntgekleidete herankommen mußte. Der Pfad, der sich am Saum einer Schlucht entlangschlängelte, war schmal; einstmals, in lange zurückliegenden Zeiten, hatten ihn die Säumer begangen, welche das Waldgebirge mit ihren Salzlasten durchquert hatten, aber später war der Steig teilweise verschüttet worden. Deshalb setzte der Wanderer vorsichtig einen Fuß vor den anderen; an besonders schwierigen Stellen zog er sein Wägelchen nicht am Strick, sondern mit den Händen, um es vor einem Absturz in die Kluft zu bewahren, und sein regenbogenfarbener Umhang flatterte dabei manchmal wie eine Fahne über der unter ihm gähnenden Tiefe.
Dann, als der Buntgekleidete um eine Kehre des Pfades bog, schlug ihm urplötzlich das Luchsfauchen entgegen. Vor Schreck erstarrte der Wanderer; panische Angst lähmte ihm die Glieder. Doch um so deutlicher sah er das Raubtier, das sich auf dem Felsen zum Sprung duckte; er hörte den grollenden Drohlaut der Bestie; er sah, wie sich die Vorderpranken des Riesenluchses in den Stein krallten – und mit dem nächsten Herzschlag sprang der Gelbflankige, dessen Katzenaugen dämonisch glühten, den Mann im bunten Radmantel an.
Die Raubbestie riß den Wanderer zu Boden; der Karren kippte über die Kante des Steigs und krachte Sekunden später auf den Grund der Schlucht. Ein dumpfer Explosionsknall drang herauf, und im Licht der vom Sauerstoff genährten Feuersäule, die aus der Kluft emporschoß, rang der Buntgekleidete auf Leben und Tod mit dem Riesenluchs. Der verzweifelt kämpfende Mann hatte die Fäuste ins Nacken- und Halsfell des Raubtiers gegraben und umklammerte mit seinen Beinen die peitschenden Flanken der Bestie. Auf diese Weise versuchte er das Untier daran zu hindern, ihm die Reißzähne ins Fleisch zu schlagen – aber immer wieder fetzten die dolchscharfen Fangzähne nur um Haaresbreite an der Kehle des Wanderers vorbei; immer wieder verfehlten sie den Kehlkopf oder die Halsschlagader des Mannes nur knapp. Und je länger das wilde Ringen dauerte, desto heftiger kämpften der Riesenluchs und der Wanderer; die Raubbestie geiferte und gierte in wachsender Raserei nach warmem Blut, während sich der Mann mit aller Kraft bemühte, den wieder und wieder zuschnappenden Fang von sich abzuhalten.
Lose Felsbrocken, die vom Pfad gestoßen wurden, polterten in den Abgrund und schienen auf halber Höhe der Schlucht in der zusammensinkenden Feuersbrunst zu verglühen; wenn sie kurz darauf am Kluftboden aufschlugen, mischte sich das donnernde Geräusch mit dem Raubtierfauchen und dem Menschenkeuchen oben auf dem Steig, und dieser gräßliche, mörderische Lärm wollte und wollte nicht verstummen.
Minutenlang tobte der archaische Kampf – dann auf einmal griff der Wanderer in äußerster Todesangst mitten hinein ins Zupacken der Reißzähne. Blut spritzte auf Handrücken und Unterarm des Mannes; im Maul der Bestie schien etwas zu knirschen; zugleich stieß der Riesenluchs einen heulenden Schmerzenslaut aus, wand sich mit hektischen Bewegungen aus der Umklammerung des
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