Die einsamen Toten
Fry hatte ihre vermisste Schwester gesucht, seit sie von den West Midlands nach Derbyshire versetzt worden war. Sie hatte ihm sogar erzählt, dass dies der einzige Grund sei, weshalb sie überhaupt nach Edendale gekommen war. Sie sei einem Gerücht gefolgt, dass Angie sich irgendwo im Norden in einer der großen Städte aufhalte.
Cooper war sicher, dass Fry aus Verzweiflung und Hoffnung so gehandelt hatte. Aus Verzweiflung, die einzige Verbindung zu ihrer Vergangenheit zu finden und damit vielleicht die Bestätigung, die sie für ihre eigene Identität benötigte. Und aus Hoffnung, dass sie ihre Schwester aufspüren würde, bevor es zu spät war.
Im Nachhinein wusste Cooper, dass er eigentlich nie daran geglaubt hatte, Dianes Hoffnung könnte sich irgendwann erfüllen. Auf einen jungen Menschen, der bereits mit sechzehn heroinabhängig gewesen war – und das war Angie laut ihrer Schwester gewesen -, warteten da draußen zu viele Gelegenheiten. Doch offensichtlich hatte ihr verzweifelter Glaube Kraft
genug entwickelt, dass Angie jetzt in Fleisch und Blut in seinem Wohnzimmer in der Welbeck Street Nummer acht stand.
Cooper war so überrascht, dass er seine Besucherin ein paar Minuten lang nur dümmlich anstarren konnte und sich auf die Sofalehne setzen musste. Er war plötzlich so durcheinander, dass er befürchtete, seine Knie könnten nachgeben und er würde als jämmerliches Häufchen auf dem Boden zusammensinken. Unvermittelt stand er wieder auf und öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Aber die einzigen Fragen, die ihm in den Sinn kamen, waren: »Wieso hier?« und »Wieso ich?«. Aber es wäre unhöflich gewesen, diese Fragen seiner Besucherin an den Kopf zu werfen.
»Wie haben Sie herausgefunden, wo ich wohne?«, fragte er schließlich.
Angie Fry strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn, eine vertraute Geste, die er fast täglich sah. »Oh, die haben sie mir auf dem Polizeirevier gesagt.«
»Aha. Sie haben Ihnen also meine Adresse gegeben?«
»Ja, ich hoffe, das stört Sie nicht. Es ist wirklich wichtig, sonst würde ich Sie nicht zu Hause belästigen.«
Cooper fiel auf, dass er mit offenem Mund dastand. Er mochte weder seinen Augen noch seinen Ohren trauen. Aber die Person, die auf seinem Teppich stand, ähnelte Diane Fry zu sehr, als dass sie eine andere als diejenige sein könnte, für die sie sich ausgab. Nur seine gute Erziehung hinderte ihn daran, mit dem herauszuplatzen, was ihm durch den Kopf ging.
Angie sah ihn belustigt an und lächelte kurz. Einen Moment dachte Cooper, dass sie sich über ihn lustig machte, aber das Lächeln verschwand so schnell wieder von ihrem Gesicht, dass er sich gar nicht mehr sicher war, es gesehen zu haben.
»Nun, möchten Sie mir keinen Kaffee oder was anderes anbieten?«, fragte sie. »Sie könnten mich auch auffordern, Platz zu nehmen, statt mich hier herumstehen zu lassen.«
»Selbstverständlich. Möchten Sie einen Kaffee? Oder wäre Ihnen Tee lieber?«
»Ein Kaffee wäre super«, sagte sie. »Weiß, ohne Zucker.«
»So wie Diane ihn trinkt. Ohne Zucker.«
»Ja, wir zwei sind schon süß genug.«
»Schon möglich.«
Die Entfernung zwischen Küche und Wohnzimmer war so gering, dass Cooper sich weiter mit Angie unterhalten konnte, während er Kaffee kochte und zwei Simpson-Becher aus dem Geschirrschrank holte.
»Waren Sie persönlich auf der Dienststelle oder haben Sie angerufen?«, fragte er.
»Oh, ich habe angerufen.«
»Mit wem haben Sie gesprochen?«
»Ist das wichtig?«
»Ach, würde mich nur interessieren. Sind Sie mit der Kripo verbunden worden oder haben Sie mit jemandem von der Auskunft gesprochen? Mann oder Frau?«
Er erhielt keine Antwort. Als er mit zwei Bechern Kaffee wieder ins Wohnzimmer zurückkam, saß Angie Fry auf dem Boden, den Rücken ans Sofa gelehnt, und starrte an die Decke. Sie hatte ihren Rucksack abgenommen und ihre Jacke ausgezogen. Cooper konnte sehen, dass sie ein altes Sweatshirt mit verwaschenen Buchstaben trug – entweder der Name einer Universität oder einer Rockband -, die jedoch nicht mehr zu entziffern waren.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Fragen, nichts als Fragen«, erwiderte sie. »Ich wusste, dass Sie mich so behandeln würden. Sie sind schließlich ein Bulle. Immer misstrauisch.«
»Darauf sind wir geeicht. Aber sowohl als Bulle als auch als Mensch wäre es mir lieb, die Wahrheit gesagt zu bekommen.«
»Ich sage Ihnen die Wahrheit«, empörte sie sich.
»Das glaube ich nicht.«
Sie erwiderte
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