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Die einsamen Toten

Titel: Die einsamen Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Booth
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irregeführt habe, und ich entschuldige mich dafür. Ich habe Ihnen und Ihren Kollegen damit sicher eine Menge Mühe gemacht. Aber Sie müssen verstehen, das war ein sehr emotionaler Augenblick. Ich bin sicher, Sie verstehen das. Vor allem für meine Frau -«
    »Aber Sie wussten zu dem Zeitpunkt bereits, dass es nicht die sterblichen Überreste Ihrer Tochter waren, nicht wahr, Sir? Sie wussten, dass es unmöglich Emma sein konnte.«
    »Nun, wenn ich jetzt darüber nachdenke, hätte es offensichtlich für uns sein müssen, dass es nicht Emma sein konnte. Wie hätte sie nach Withens und noch dazu auf den Friedhof kommen sollen? Das war nicht logisch. Aber das kann man im Nachhinein leicht sagen. Wir haben die ganze Zeit über nicht logisch gedacht. Wir waren beide völlig durcheinander.«
    »Aber vielleicht mussten Sie gar nicht lange überlegen?«
    »Wie meinen Sie das?«

    »Sie haben nie wirklich daran geglaubt, dass dies die Überreste Ihrer Tochter waren.«
    Howard zögerte kaum merklich.
    »Ich habe es nicht geglaubt«, sagte Sarah. »Ich wusste, dass es nicht Emma sein konnte. Sie ist doch noch am Leben, oder?«
    »Wir wissen es nicht, Mrs Renshaw.«
    »Howard hat nie daran geglaubt, die ganze Zeit über nicht, er hat nur so getan. Emma konnte sich auf seinen Glauben nicht verlassen, nur auf meinen. Wenn sie jetzt stirbt, ist es allein meine Schuld. Ich bin alles, was sie noch hat.«
    Howard rutschte unbehaglich auf seinem Platz hin und her, aber Sarah sah nicht zu ihm hinüber. Heute wurden keine bedeutungsvollen Blicke getauscht.
    »Zwei Jahre lang habe ich gedacht, irgendetwas, das ich tue, hält Emma fern«, fuhr Sarah fort. »Ich dachte, wenn ich nicht wäre, würde sie zurückkommen. Dann hätte sie ihr Leben fortführen können. Aber jetzt kommt mir das sehr dumm vor.«
    »Nein, so würde ich das nicht nennen.«
    »Als sie noch ein Kind war, mochte ich es nie, wenn sie drau ßen spielte. Ich stellte mir immer das Schlimmste vor – dass sie entführt und ermordet werden würde. Man hört doch, wie oft das vorkommt. Ich machte mir ständig Sorgen, wenn Emma nicht in meinem Blickfeld war. Also richtete ich es so ein, dass ich sie immer sehen konnte. Aber gleichzeitig fühlte ich mich schuldig, weil ich ihr keine Freiheit ließ. Es war damals schon gefährlich genug für Kinder. Aber heute ist es noch schlimmer, nicht wahr?«
    »Statistisch gesehen, nicht«, antwortete Fry. »Es werden nicht mehr Kinder von Fremden entführt oder ermordet als in den Achtzigerjahren.«
    »Aber wenn es passiert, erfahren wir sofort davon. Es kommt in den Nachrichten, im Fernsehen und steht in allen Zeitungen. Alle reden darüber.«

    »Manchmal müssen Kinder lernen, dass das Leben auch riskant sein kann. Das gehört zum Erwachsenwerden.«
    »Glauben Sie, das wäre nicht passiert, wenn ich zugelassen hätte, dass Emma größeren Risiken ausgesetzt gewesen wäre, als sie noch jünger war?«
    »Das kann kein Mensch sagen, Mrs Renshaw.«
    »Trotzdem frage ich mich das. Dauernd denke ich, dass es meine Schuld war, und fühle mich wegen jeder Kleinigkeit schuldig. Das fällt mir in den unmöglichsten Augenblicken ein. So wie damals, als ich Emma stillte.«
    Fry warf Howard einen Blick zu, der aus dem Fenster sah und ins Leere starrte. Er saß auf der Ledercouch neben einem der Teddybären, der mit ebenso leeren Augen in die Luft starrte.
    »Sie haben Schuldgefühle, weil Sie gestillt haben, Mrs Renshaw?«
    »Nein, es gab da nur diesen kleinen Zwischenfall, als sie gerade ihre Zähne bekam. Es war nur ein kurzer Moment, nicht mehr als eine instinktive körperliche Reaktion von meiner Seite. Aber das kann ein Kind fürs Leben zeichnen – vor allem in dem Alter, wenn es noch so empfänglich ist.«
    »Ich verstehe nicht, worüber Sie reden.«
    »Als Emma zahnte, biss sie mich einmal in die Brustwarze. Es tat fürchterlich weh, und ich bin ziemlich erschrocken. Natürlich habe ich sie sofort von der Brust genommen – weil es so wehtat, wissen Sie. Aber das hieß, dass ich sie in einem entscheidenden Moment abgewiesen habe – als sie an meiner Brust trank. Und das zu einer Zeit, die so wichtig ist für die Bindung, für den Aufbau der Liebe und des Vertrauens zwischen Mutter und Kind, die ein Leben lang halten sollen.«
    »Aber Sie haben es doch nicht mit Absicht getan.«
    »Nein, aber das kann man einem Baby nicht erklären. Und Emma begriff, dass sie zurückgewiesen worden war. Sie schrie, und ich sah es ihr an. Danach hat sie immer

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