Die einsamen Toten
mehrere dieser kleinen Rucksäcke, deshalb war es schwer, zu sagen, welche Tasche sie mitbringen würde. Aber ihre Geldbörse war nicht da, auch keine Kreditkarten oder ihre Schlüssel.«
»Sie hat einen Wagen, wollte ihn aber nicht in die West Midlands mitnehmen«, erklärte Howard. »Der Wagen steht noch in unserer Garage. Ein Audi.«
»Er ist erst zwei Jahre alt«, fügte Sarah hinzu.
»Aber wenn sie ihr Portemonnaie, Geld, ihre Kreditkarten -«
»Ja, das wissen wir. Die Polizei sagte, sie kann sonstwohin gefahren sein, wenn sie Geld bei sich hat.«
»Ich fürchte, solche Dinge passieren immer wieder, Mrs Renshaw. In einer Stadt voller Studenten hat die Polizei jedes Jahr mit vielen ähnlichen Fällen zu tun.«
»Emma studiert an der Hochschule für Kunst und Design in Birmingham«, belehrte sie Sarah, als unterschiede sie dieser Umstand von allen anderen Studenten. »Sie will ihren Bachelor-Abschluss
in bildender Kunst machen. Ihr Interesse gilt vor allem der Kombination Marketing und Design. Letztes Jahr hätte sie einen Platz bekommen, aber den konnte sie natürlich nicht antreten. Es wird schwer für sie werden, das alles aufzuholen.«
»Emma ist ungemein begabt, wissen Sie«, sagte Howard. »Sie müssen sich ihre Arbeiten mal anschauen.Wir haben alles Mögliche von ihr zu Hause. Ein paar Sachen haben wir aus ihrem Zimmer in Bearwood mitgebracht – die Projekte, an denen sie während des Semesters arbeitete.«
»Ihr wäre es bestimmt nicht recht, wenn sie verloren gehen«, sagte Sarah. »Manches ist noch nicht fertig.«
Noch nicht fertig? Diane Fry betrachtete das Paar genauer. Hoffnung war eine Sache, aber glaubten die Renshaws wirklich, dass ihre Tochter morgen oder übermorgen wieder vor der Tür stünde, um ihre Projekte zu beenden oder eine Runde mit ihrem Audi zu drehen?
Sie bemerkte, wie Sarah Renshaw sich zu ihrem Mann umdrehte, einen bedeutungsvollen Blick und ein kleines Lächeln mit ihm tauschte, als wären sie allein im Raum.
»Wir haben Plakate drucken lassen«, erzählte Howard. »Mein Bruder hat das für uns in seinem Büro organisiert. ›Haben Sie dieses Mädchen gesehen?‹, stand darauf. Wir haben sie bei Zeitungshändlern und in den Häusern von Studentenvereinigungen aufgehängt. Auch an anderen Orten, die sie in Birmingham und im Black Country häufig aufsuchte. Nicht unbedingt immer die angenehmsten Orte. Sie wissen schon – Bars und Clubs, nicht die Art Etablissement, die wir – oder Emma – normalerweise aufsuchen würden. Aber sie studiert nun mal und führt ein völlig anderes Leben als wir. Dafür haben wir auch Verständnis.«
»Sie studiert schließlich Kunst«, ergänzte Sarah. »Als Kunststudentin darf man ruhig ein bisschen unkonventionell sein, nicht wahr?«
»Aber niemand hatte sie dort gesehen?«
»Nein.«
»Mr und Mrs Renshaw, Ihnen ist bekannt, dass die Polizei in West Midlands damals Ermittlungen angestellt hat.«
»Ach ja? Aber was waren das für Ermittlungen? Wir dachten, sie würden von Haus zu Haus gehen, alles gründlich durchsuchen. Oder Hubschrauber mit Wärme kameras einsetzen. Alles das, was man immer in den Nachrichten sieht, wenn die Kinder anderer Leute verschwinden. Aber nichts davon ist geschehen. Und wir haben uns immer wieder darüber beschwert. Mehrmals haben wir mit einem Inspector gesprochen. Wir haben uns an die Zeitungen gewandt, um darauf hinzuweisen, wie wenig die Polizei in unserem Fall unternimmt. Aber es hat nichts genützt. Wir waren denen allen nur lästig.«
»Bei Kindern würde man zu den von Ihnen erwähnten Maßnahmen greifen. Aber Emma war neunzehn. Und, wie ich bereits sagte...«
»... so etwas passiert immer wieder. Ja, das wissen wir. Hunderte junger Menschen werden jedes Jahr vermisst, und fast alle kehren unbeschadet wieder nach Hause zurück. Das hat man uns alles erzählt. Aber bei unserer Tochter ist das etwas anderes.«
»Mir ist bewusst, wie schwierig die Lage für Sie ist. Es muss wirklich nicht leicht sein, damit zu leben.«
»Nicht leicht? Wissen Sie, wir bekommen schon panische Angst, wenn wir in einer Menge getrennt werden. Oder wenn es nur so aussieht, als hätten wir einander verloren. Erst wenn Sie selbst erlebt haben, was es heißt, plötzlich einen Menschen zu verlieren, der zu Ihnen gehört, können Sie das begreifen. Es ist, als würde man von einem Teil von sich selbst abgeschnitten. Diese Angst hat Sie vollständig im Griff, ein Leben lang. Ich glaube nicht, dass einer von uns jemals wieder
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