Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die einsamen Toten

Titel: Die einsamen Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Booth
Vom Netzwerk:
beobachtete. Er beschloss, zu klopfen und sie zu fragen, ob sie wisse, wo Neil sei. Aber als Antwort erhielt er nur ein stummes Kopfschütteln hinter vorgelegter Sicherheitskette.
    Langsam kehrte er in Neils Haus zurück und blieb einen Moment im Wohnzimmer stehen, um sich ein letztes Mal umzusehen. Alles schien in Ordnung zu sein. Soweit er es beurteilen konnte, war alles an seinem Platz. Philip nahm ein Messingkästchen vom Kaminsims und besah sich das in den Deckel gehämmerte Muster, ehe er es einige Zentimeter weiter links wieder zurückstellte. Den Kopf geneigt, betrachtete er zufrieden sein Werk.
    Dann verschloss Philip die Haustür seines Bruders und holte sein Handy aus der Innentasche. Er wählte Neils Nummer, aber es meldete sich niemand. Der Zweite, den er anrief, war Reverend Derek Alton.
     
     
    In der St.-Asaph-Kirche wurden wenige Minuten später Derek Altons Augen magnetisch vom Mosaik des Ostfensters und der Ansicht von St. Asaph angezogen, dieses obskuren keltischen Heiligen, dem die Kirche geweiht war. Der Heilige war dargestellt, wie er glühende Kohlen in seinem Mantel trug, ohne dass er selbst oder seine Kleidung in Flammen aufgingen. Für diejenigen,
die über diesbezügliche Fragen entschieden, offenbar Beweis genug für seine Heiligkeit. Und mehr war über seine Lebensgeschichte und sein Martyrium auch nicht bekannt.
    Das Fenster war aus Hunderten winziger Glasstücke zusammengesetzt. Manche waren grün wie frisches Gras, andere blau wie der Himmel oder rot wie Feuer. Frühmorgens erstrahlten sie im Schein der Sonne, die von Osten darauffiel. Derek Alton bemerkte, dass der untere Teil von St. Asaph dunkler als der Rest der Figur war. Unterhalb der rot glühenden Kohlen in einer Falte seines Mantels fiel kein Licht durch das Glas. Der Heilige sah aus, als sei er in der Taille durchgeschnitten. Alton wusste, dass das an dem Kletterefeu lag, der an der Ostwand emporwuchs und sich bereits über die Fenster ausbreitete. Die Frühjahrstriebe stachen in grellem Grün von der Mauer ab, und die gierigen Ranken suchten sich Halt an den Umrandungen aus Blei, welche die bunten Glasstücke zusammenhielten.
    Wenn er genauer hinsah, konnte Alton auf dem Unterleib des Heiligen deutlich die dreieckigen Formen der jungen Efeutriebe erkennen. Wie kleine, grüne Zungen leckten sie am Gewand von St. Asaph. Jeden Tag wuchsen sie ein Stück mehr, rankten sich der Sonne entgegen und fraßen langsam das Bild auf. Die Beine des Heiligen waren bereits von der erbarmungslosen Kraft der Natur verschlungen.
    Wenn dem Wachstum des Efeus kein Einhalt geboten wurde, würde das Blei zerbröckeln und das Glas auseinander fallen. Eines Tages würde das gesamte Fenster mit lautem Getöse herunterkrachen und der heilige St. Asaph auf dem Boden des Ostgangs landen.
    »Na, ist Ihnen langweilig, Herr Pfarrer?«
    Alton spürte, wie unter seinem Kragen eine verlegene Röte emporkroch. Ein hoch gewachsener junger Mann stand im Gang neben der Westtür. Er trug Jeans und einen blauen Pullover, und sein blondes Haar war frisch geschnitten und mit Gel in Form gebracht.

    »Oh, du bist es, Scott.«
    »Ja, Gott sei Dank bin ich es, wie? Zum Glück bin ich nicht der verfickte Bischof. Der würde Ihnen die Kutte runterreißen und Ihr Halsband dem Hund zurückgeben, noch ehe Sie ein Ave-Maria brabbeln können.«
    »Ave Maria«, sagte Alton.
    »Genau.«
    Alton beobachtete, wie Scott Oxley durch den schmalen Gang auf ihn zukam, dabei seine Hand schwer auf jede Bankreihe fallen ließ und über die geschnitzten Enden strich.
    »Wolltest du was von mir, Scott?«
    »Nein.«
    Scott sah sich lächelnd in der Kirche um und ließ ihn zappeln.
    »Haben Sie heute schon was von Neil gehört, Herr Pfarrer?«, fragte er schließlich.
    »Nein, habe ich nicht. Dabei wollte er mir heute bei der Arbeit auf dem Friedhof helfen.«
    »Der gute alte Neil.«
    Scott trat an die Kanzel aus Eiche und strich das Tuch glatt, das darüber gebreitet war. Alton wäre es lieber gewesen, er hätte nichts angerührt, beherrschte sich aber.
    »Ich habe Philip angerufen, und er hat bei Neil vorbeigeschaut, aber der war nicht zu Hause. Weißt du, wo Neil ist, Scott?«
    »Keine Ahnung.«
    Scott ging den Kirchengang zurück. Wieder ließ er dabei seine Hand schwer auf jede Bankreihe fallen. Alton hörte, wie er in die Vorhalle trat. Er konnte erst sicher sein, dass der junge Mann gegangen war, wenn die massive Eichentür mit einem ohrenbetäubend lauten Knall ins Schloss gefallen

Weitere Kostenlose Bücher