Die einsamen Toten
entstandene Spannung zu entschärfen und die Wogen zu glätten.
»Es gibt viele junge Menschen, die lange Zeit vermisst sind«, versuchte er zu vermitteln.
»Ja, ich weiß, Mr Renshaw«, antwortete Fry.
»Und viele tauchen wieder auf, gesund und munter – manchmal erst nach vielen Jahren.«
»Ja.«
»Und Sie wissen sehr wohl, dass die polizeilichen Ermittlungen damals keinerlei Hinweise auf ein Verbrechen erbrachten.«
»Richtig«, erwiderte Fry.
Aber Howard Renshaw war hellhörig genug, um ihr kurzes Zögern zu bemerken.
»Zumindest hat man uns das damals erklärt«, sagte er und fixierte sie mit einem vorwurfsvollen Blick.
»Jetzt gibt es neue Beweise«, fuhr Fry fort.
»Beweise?«
»Ich fürchte, wir haben Emmas Handy gefunden.«
»Wo?«, fragte Howard.
»Im Wald etwas außerhalb von Chapel-en-le-Frith.«
»Können Sie uns Näheres dazu sagen?«
»Im Augenblick noch nicht, Sir. Wir wollen das Gebiet erst gründlich absuchen, ehe wir irgendwelche Schlussfolgerungen ziehen.«
Sarah Renshaw lächelte. »Wenn sie ihr Handy verloren hat, erklärt das natürlich, weshalb wir sie nie erreicht haben. Aber ich vermute, es wurde ihr gestohlen.«
»Ja, das ist durchaus eine Möglichkeit«, erwiderte Fry. »Aber man kann diesen Sachverhalt auch noch anders interpretieren. Wir halten uns vorerst noch alle Optionen offen.«
»Was wollen Sie damit ausdrücken?«
Fry entging der leicht hysterische Unterton in Sarah Renshaws Stimme nicht, und ihr Unbehagen wuchs. Sie bemerkte, dass Gavin Murfin neben ihr ebenfalls unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte, als wollte er am liebsten aufstehen und aus dem Raum stürzen.
»Ich will Sie nicht beunruhigen, Mrs Renshaw. Wir müssen uns nur erneut die Umstände näher ansehen und -«
»Und was ?«
Sarah Renshaws Gesicht rötete sich. Fry sah sich verzweifelt nach etwas um, das sie beruhigt hätte. In der Hoffnung auf einen erneuten Auftritt von Mr Renshaw als besänftigenden Vermittler warf sie ihm einen flehenden Blick zu, aber er reagierte nicht. Doch Sarah beruhigte sich von selbst wieder.
»In der Nacht, in der sie nicht nach Hause kam, zündete ich eine Kerze an«, sagte sie. »Seitdem brennt ständig eine Kerze für sie.«
Fry nickte. Sie wusste nicht, was sie erwidern sollte, und beschloss, nicht darauf einzugehen.
»Ich muss zunächst noch ein paar Informationen einholen«, sagte sie, »aber dann würde ich Sie gern zu Hause besuchen, wenn es Ihnen recht ist. Morgen vielleicht.«
»Morgen Nachmittag wäre gut«, antwortete Sarah.
»Werden Sie noch mal mit Emmas Freunden reden?«, wollte Howard wissen.
»Ja. Ich habe vor, mit Alex Dearden und Neil Granger zu beginnen.«
»Alex ist ein netter junger Mann«, sagte Sarah. »Ich hoffe, dass er und Emma eines Tages zusammenkommen.«
Die Renshaws sahen auf die Wanduhr und dann auf ihre Armbanduhren.
»Wir müssen jetzt gehen«, sagte Howard.
»Wir wollen bei der Unterführung auf Emma warten«, fügte Sarah hinzu.
Fry starrte sie an. »Wie bitte?«
Sarah stand auf, lächelte und tätschelte Frys Ärmel. »Keine Sorge«, sagte sie. »Wir haben Führung .«
Sobald die Renshaws gegangen waren, ließ Diane Fry sich von Gavin Murfin die Akten bringen. Murfin hatte Recht gehabt; es hätte geholfen, wenn sie vorgewarnt gewesen wäre. Aber alle in der Division E schienen die Geschichte zu kennen und hatten wahrscheinlich angenommen, sie wüsste ebenfalls Bescheid. Wieder eine dieser kleinen Störungen im Kommunikationsweg, die manchmal so frustrierend sein konnten. Wahrscheinlich hatten alle, außer Detective Inspector Hitchens, vergessen, dass sie selbst aus Warley stammte, wo Emma das letzte Mal gesehen worden war. Fry hatte hier in Edendale
nur mit wenigen Menschen über ihre Vergangenheit gesprochen.
Fry ging davon aus, dass Howard und Sarah Renshaw einmal ganz normale Menschen gewesen waren. Bis zu diesem Abend vor zwei Jahren waren sie ein nettes Mittelklassepaar in mittleren Jahren gewesen, mit einem Einfamilienhaus in Withens und einerTochter, die Kunst in Birmingham studierte. Wahrscheinlich hatten sie einen Barbecuegrill auf der Veranda und verbrachten die Urlaube in einem Wohnwagen in Abersoch.
Fry konnte den Akten nicht viel mehr Details über sie entnehmen. Offensichtlich hatte Howard mit dem Gedanken gespielt, vorzeitig in Pension zu gehen und seinen Job als Geschäftsführer einer großen Baufirma in Sheffield an den Nagel zu hängen. Vielleicht hatte er jeden Morgen die kahle
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