Die einsamen Toten
Emmas Eltern noch Kontakt zu Ihnen?«
Er lachte. »Jede verdammte Woche. Eines Tages werde ich sie noch wegen Belästigung verklagen und eine einstweilige Verfügung gegen sie erwirken. Das ist mein Ernst. Ich weiß, dass sie wegen Emmas Verschwinden völlig durcheinander sind. Aber wenn Sie mich fragen, sind sie total durchgeknallt und reagieren inzwischen absolut unvernünftig.«
»In welcher Hinsicht, Sir?«
»Also, Mrs Renshaw ruft mich jede Woche an und fragt mich, ob ich Emma gesehen hätte. Und jedes Mal ist es so, als wüsste
sie nicht mehr, dass sie mich in der Woche zuvor angerufen und mir dieselbe Frage gestellt hat. Und die Woche zuvor und die zuvor auch. Bei jedem Anruf scheint sie zu glauben, sie würde mir diese Frage zum ersten Mal stellen.«
Dearden beugte sich zu Fry hinüber. Beinahe hätte sie das Designerlogo auf seinem T-Shirt erkennen können, aber er war noch nicht nah genug.
»Und ich weiß, dass sie nicht aufhören wird, mich anzurufen«, fuhr er fort, »bis ich ihr die Antwort gebe, die sie hören will. Aber das kann ich nicht. Es hat auch keinen Sinn, meine Telefonnummer zu Hause zu ändern, weil sie dann nur anfängt, mich hier anzurufen. Und das wäre ein Albtraum.«
»Es muss sehr schwer für sie sein«, wandte Fry ein.
»Und was ist mit mir? Für mich ist es auch schwer. Können Sie denn nicht was dagegen unternehmen? Können Sie nicht mal mit ihr reden? Das ist eine echte Belästigung.«
»Okay, ich werde sie darauf ansprechen, Sir.«
Dearden seufzte. »Sicher. Das nützt bestimmt viel.«
»Und Neil Granger?«
» Neil ? Was ist mit ihm?«
»Haben Sie noch Kontakt zu ihm?«
»Eigentlich nicht.«
»Wann haben Sie das letzte Mal mit ihm gesprochen?«
Dearden zuckte die Schultern. »Das ist jetzt schon ein paar Monate her. Ich war zu Besuch bei meinen Eltern und machte auf dem Rückweg auf einen kurzen Drink im Quiet Sheperd in Withens Halt. Neil war mit Anhang da. Die Oxleys, Sie wissen schon. Deswegen haben wir nicht viel miteinander geredet. Nur ein kurzes ›Hallo‹. Das war alles. Kein richtiges Gespräch.«
»Und ich vermute, dass keiner von Ihnen Emma erwähnt hat?«
»Nein«, antwortete Dearden gereizt. »Keiner von uns hat Emma erwähnt.«
»Diese Software, die Sie hier entwickeln …«, sagte Fry.
»Das ist im Augenblick noch höchst vertraulich.«
»Können Sie mir vielleicht einen Hinweis geben, worum es ungefähr geht?«
»Also, Sie müssen sich Folgendes vorstellen: Das menschliche Gehirn ist in der Lage, Routinehandlungen und immer wiederkehrende Aktionen automatisch durchzuführen wie ein Computer. Aber hin und wieder kommt es zu Störungen im vordersten Großhirnlappen, dem Sitz der Aufmerksamkeitssteuerung. Dann können Aktionen zwar immer noch automatisch durchgeführt werden, aber nicht mehr in der richtigen Reihenfolge. Oder sie können nicht mehr gestoppt werden. Nach Aussage der Psychologen ist das der Preis, den wir dafür zahlen, unsere Handlungen automatisieren zu können.«
Fry warf Murfin einen warnenden Blick zu, jetzt bloß nicht loszulachen. Hoffentlich war Alex Dearden kein Roboter, dachte sie, und konnte im geeigneten Moment noch gestoppt werden.
»Sie müssen sich das wie einen Autopiloten vorstellen, der einen Defekt hat«, fuhr er fort. »Den Psychologen hilft dieser Zusammenhang beim Verständnis menschlicher Fehlbarkeit. Uns hilft er, die Technik zu entwickeln, die menschliche Fehler bei der Bedienung von vorneherein mit einkalkuliert. Deshalb sind Computerprogramme so angelegt, dass der User ein Dokument nie schließen kann ohne Nachfrage, ob er es sichern will oder nicht«, erklärte er. »Aber wir werden dieses Konzept noch um einiges weiterentwickeln. Sehr viel weiter sogar. Mehr kann ich Ihnen dazu allerdings beim besten Willen nicht sagen.«
»Weil Sie mich sonst töten müssten?«, fragte Fry.
»Wie bitte?«
»Ist schon gut.«
Als sie das Gebäude der Eden Valley Software Solutions verlie ßen, blieb Gavin Murfin auf dem Parkplatz stehen und tat so, als spuckte er den imaginären Kaugummi aus. Dann trat er ihn
in den Teer und drückte mit der Schuhspitze so lange und gründlich darauf herum, bis er zufrieden war.
»Fühlst du dich jetzt besser?«, fragte Fry.
»Nicht, ehe ich ein Stück von meiner Pastete zwischen die Zähne bekomme.«
»Aber nicht in meinem Wagen, Gavin.«
»Ich werde aufpassen, dass ich nicht krümle. Ehrlich.«
»Hast du eine Ahnung, wie viel es mich gekostet hat, diesen Wagen sauber
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