Die Einsamkeit des Barista
ich diese Bilder bestimmt zehn Mal angeschaut und mir dabei überhaupt nichts gedacht.«
Unmittelbar nach dieser Bemerkung zog er seine Zigaretten hervor und zündete sich nonchalant eine an. Massimo, der sowieso erkannte, dass heute nicht der Tag war, um auf Regeln zu pochen, streckte die Hand aus und nahm sich beinahe mechanisch ebenfalls eine.
»So seltsam ist das doch gar nicht. Um etwas zu sehen, muss man wissen, wonach man gucken soll.«
»Sicher«, antwortete Aldo. »Wie diese beiden armen Zeugen Jehovas, die einfach nur versucht haben, dir das Paradies zu schenken. Und du hast sie zur Hölle geschickt.«
»Nun, bei denen warst du aber wirklich sehr unhöflich«, sagte Tiziana. »Die Ärmsten, die wollten doch nichts Böses. Was haben die dir getan?«
»Es sind Fanatiker. Ich kann dermaßen Überzeugte nicht ertragen.«
»Dann pass aber auf, dass du nicht in den Spiegel schaust«, versetzte Aldo und legte den Stock auf ein Tischchen.
»Nimm den sofort da weg. Und den Nächsten, der einen Stock herumliegen lässt, den hänge ich an den Daumen auf.«
Aldo ging hinaus, um den Stock an seinen Platz zu bringen, und Massimo trank seinen Tee aus, während er wartete, bis er zurückkam.
»Ich habe mich nicht klar ausgedrückt, Aldo. Es sind religiöse Fanatiker. Ich ertrage die Religionen nicht. Das eigene Leben auf etwas aufzubauen, ohne jemals auch nur den Hauch eines Zweifels zu spüren, das ist doch schwachsinnig. Und es dann noch auf religiöse Dogmen zu bauen, ist noch viel schlimmer. Ohne Religionen wäre die Welt wesentlich besser.«
»Du kommst mir dumm vor«, mischte sich Del Tacca ein, spuckte mit der gewohnten Höflichkeit die Worte förmlich wie Projektile durch das Blasrohr seiner filterlosen Stop. »Die Welt wäre eine bessere ohne Religionen, pah. Es braucht Regeln. Es kommt halt darauf an, was für welche. Du musst doch zugeben, dass die Welt ein ganzes Stück besser wäre, wenn alle sich wie Christenmenschen verhalten würden.«
»Richtig«, sagte Tiziana. »Es wäre eine perfekte Welt.«
»Und wer sagt das?«, fragte Massimo, während er sich ein weiteres Glas Eistee einschenkte.
»Gott, logischerweise«, sagte Rimediotti. »Du stellst Regeln auf, und wenn die Regeln gut sind und alle sie befolgen, dann muss zwangsläufig alles gut werden. Und wenn niemand sie befolgt, gibt es Chaos.«
»Genau«, sagte Ampelio. »Wenn man die Regeln nicht befolgt, gibt es Chaos. Ich zum Beispiel dürfte eigentlich nicht rauchen. Und weil ich Diabetes habe, müsste ich auch Diät halten. Wenn’s nach dem Doktor ginge, müsste ich schon seit zehn Jahren erledigt sein. Stattdessen bin ich dreiundachtzig und pfeife auf ihn und seine Regeln und bin immer noch hier.«
»Was allerdings nicht unbedingt positiv zu bewerten ist«, sagte Massimo. »Wie dem auch sei, es ist das Prinzip, das nicht stimmt. Es ist nicht gesagt, dass aus guten Regeln zwangsläufig Gutes entsteht.«
»Entschuldige, aber wie meinst du das?«, fragte Tiziana.
Massimo stellte das Glas ab und zündete sich eine weitere Zigarette an. Es kam sowieso nicht mehr darauf an. Na gut, sagten die Gesichter der Alten reihum, jetzt sind wir mit der Vorlesung dran.
»Ich bin Mathematiker. Die Mathematik beschäftigt sich mit Regeln und den Implikationen, die diese Regeln beinhalten. Nehmen wir irgendein beliebiges Spiel, was weiß ich, Schach oder Monopoly.«
»Oder Sexspielchen«, schlug Ampelio vor.
»Nein, halten wir uns an Schach, das ist besser. Die Regeln des Schachspiels sind überaus einfach: In erster Linie dürfen die Figuren sich nicht gegenseitig überholen. Der Bauer bewegt sich immer nur ein Feld nach vorne, bei der Eröffnung zwei. Der König ein Feld in alle Richtungen, der Läufer in der Diagonalen, so viele Felder, wie er will, das Pferd muss ein L beschreiben aus zwei Feldern in der einen und einem Feld in der anderen Richtung. Und die Dame schließlich kann sich in jede Richtung und über so viele Felder, wie sie will, bewegen. Einfacher geht’s nicht, oder? Und dennoch ergibt sich aus diesen Regeln eine Partie Schach. Oder besser gesagt, eine unendliche Menge an möglichen Kombinationen, Myriaden von Taktiken und sinnvollen Strategien, ein Haufen Komplexität, der seinesgleichen sucht. In wenigen Worten: ein ungeheures Chaos, das zu beherrschen überaus schwierig ist.«
»Kommt mir noch untertrieben vor«, meinte Ampelio. »Ha. Wo die Frau machen kann, was sie will, gibt’s immer ein Chaos, von dem schon die Hälfte mehr
Weitere Kostenlose Bücher