Die Einsamkeit des Barista
als genug wäre, und das ist so, seit die Welt die Welt ist.«
»Also, wenn du eine Gesamtheit von Objekten erschaffen musst, deren Verhalten von Regeln bestimmt sein soll, dann gibt es, selbst wenn alle Objekte oder Individuen diese Regeln buchstabengetreu befolgen und sie nicht verletzen können, keine Einfachheit. Aus klaren Regeln kann ein Durcheinander entstehen, das unmöglich vorhersehbar ist, wenn man einfach nur auf Basis der Regeln denkt, nach denen es erschaffen wurde. Du kannst nur zusehen, wie das System, das die Regeln erschaffen haben, sich entwickelt, aber du kannst nicht a priori voraussagen, wie es sich entwickeln wird.«
Massimo schenkte sich noch etwas Tee ein und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Säule hinter dem Tresen. Ampelio nutzte den Augenblick des Schweigens und sagte: »Während die Dinge sich entwickeln, würdest du mir einen Espresso machen?«
»Abgesehen davon gefällt mir an der Religion nicht, dass sie nicht freigeistig ist: Der Wahlspruch der katholischen Religion ist: ›Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu‹, was aber oft zu ›Behandele die anderen nach deinen eigenen Überzeugungen‹ umgedeutet wird«, fuhr Massimo fort, während er Ampelio den Espresso servierte. »Folglich, auf die Spitze getrieben, ist es dir schnurzegal, was die anderen denken: Was gut für dich ist, muss auch gut für die anderen sein. Das nennt man Intoleranz. Und die Tatsache, dass im Prinzip ein Gläubiger nach, theoretisch, nur den allerbesten Maßstäben urteilt, beruhigt mich da nicht wirklich. Aus den gerechtfertigsten Prinzipien, gerechten und – in der Theorie – idealen Prinzipien heraus, können Menschen mit ihrem alltäglichen Verhalten, das nicht von theoretischen Regeln, sondern von Problemen, Leidenschaften und Wünschen bestimmt wird, wahre Abscheulichkeiten begehen. Ein bisschen so wie der reale Sozialismus. Also, das geht alles in Ordnung, wenn du ein normaler, ausgeglichener und guter Mensch bist. Aber wenn du ein Masochist bist? Wenn du Vegetarier bist? Wenn du einfach nur ein riesiges Arschloch bist?«
Massimo kehrte hinter den Tresen zurück.
»Du kannst nicht davon ausgehen, dass das, was für dich gut ist, für die anderen auch gut sein muss. Diese Haltung beruht auf der Voraussetzung, dass das, was für dich gut ist, richtig ist, dass also deine Werte die richtigen sind. Erstens, wer sagt denn, dass es die richtigen sind?«
»Die Bibel«, wagte Del Tacca sich vor.
»Die Bibel, sicher. Dasselbe Buch, das auch behauptet, dass die Sonne um die Erde kreist, welche ungefähr zehn Millionen Jahre alt ist. Entschuldige, aber in einen Text, der diese Informationen liefert, habe ich kein bedingungsloses Vertrauen. Und glaub bloß nicht, dass ich einfach nur so daherrede, denn die Bibel kenne ich gut. Ich glaube, das hab ich dir schon letzte Woche bewiesen.«
»Und wie kommt es, dass du die Bibel so gut kennst?«
»Weil ich den Katechismus gelernt habe. Ich habe die Taufe mitgemacht, die Kommunion und die Firmung, und ich hab alle drei Prüfungen bestanden.«
»Wenn’s darum geht, so hast du dich sogar verheiratet, und zwar in der Kirche«, mischte sich Ampelio ein. »Aber mir ist, als hätten sie dich im September doch nicht in die nächste Klasse versetzt.«
»Außerdem«, fuhr Massimo fort, während er seine Zigarette ungerührt in Ampelios Kaffee ausdrückte, »habe ich sie gelesen, die Bibel. Im Gegensatz zu den vielen Frömmlern, die nur in die Kirche rennen, um Rosenkränze zu murmeln. Sie ist ein interessantes Buch. Teilweise wunderschön. Und von fundamentaler Bedeutung, denn ein großer Teil unserer Kultur und unserer Erziehung beruht darauf.«
»Ah, und steht in der Bibel auch, dass du deinem Großvater den Kaffee versauen darfst?«
»Nein«, sagte Aldo, während er sich hinsetzte. »Darin steht, dass es eine Zeit zu reden gibt und eine Zeit zu schweigen. Das ist eine sehr bedeutsame Passage, die kann ich dir nur ans Herz legen.«
»Also«, nahm Massimo den Faden wieder auf, »das Prinzip, nach dem du das Leben der anderen auf Grundlage deiner Maßstäbe bestimmen darfst, gefällt mir nicht. Denkt nur an eine Nation, in der sich alle so benehmen müssten, wie es meinem Großvater gefällt. Erstens würde überhaupt niemand mehr ein Buch lesen. Zweitens würde die Nation innerhalb von genau zwölf Sekunden untergehen, wenn man bedenkt, wie mein Großvater über die Arbeit denkt.«
»Sieh an! Der Genosse Stakanow hat
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