Die Einsamkeit des Barista
sehen: eine längliche Form ohne Ohrläppchen mit einer nach oben hin spitz zulaufenden Ohrmuschel, beinahe wie bei einem Elfen. Dasselbe Ohr, das einem aus dem Foto darunter beinahe entgegensprang, wo es am Schädel eines zarten, langhaarigen jungen Mannes befestigt war, der diesen leeren Gesichtsausdruck zur Schau trug, den man häufig auf Ausweisen sieht.
Unter dem ersten Foto informierte eine schwülstige Bildunterschrift: »Der Kandidat Stefano Carpanesi, hier mit einem seiner zahlreichen Unterstützer, die ihn nach den Begräbnisfeierlichkeiten zu Ehren des jungen Giacomo Fabbricotti vor der Kirche Santa Luce erwarteten, um ihm ihre Unterstützung zu demonstrieren.«
Die Bildunterschrift unter dem zweiten Foto beschränkte sich sehr viel mehr aufs Wesentliche.
Sie besagte schlicht: »Das Opfer, Giacomo Fabbricotti.«
»Es ist mir eingefallen, als ihr vorhin von Carpanesi geredet habt«, erklärte Pilade, während er den ihm gebührenden Ruhm mit verständlicher Genugtuung genoss. »Meine Frau hat immer gesagt, dass er ein gut aussehender Mann ist, und auf bestimmte Dinge achte ich einfach nicht so besonders. Nur dass ich gestern Abend zufällig eine von diesen Fernsehserien von vor zwanzig Jahren gesehen habe, die meinem Sohn immer so gefallen haben. Die mit dem Schiff, das im Weltall herumfährt, wo sie diesen Apparat haben, der sie von einem Ort an einen anderen versetzt.«
Trotz dieser dürftigen Beschreibung war es schwerlich möglich, dass Pilade von etwas anderem als Star Trek sprach. Dennoch räumte er jeglichen Zweifel aus, indem er fortfuhr: »In dieser Serie gibt es einen Piloten, der hat Ohren wie ein Dobermann. Und gestern Abend ist mir durch den Kopf gegangen, dass ich neulich bei irgendwem solche Ohren gesehen hatte. Nun ja, nur ungefähr, weil ich alt bin, aber auch als junger Mann hatte ich schon ein etwas schlechtes Gedächtnis, also mir wollte einfach nicht einfallen, bei wem. Als Tiziana aber vorhin von Carpanesi gesprochen hat, ist es mir wieder eingefallen. Also bin ich nach hinten gegangen, um zu sehen, ob ich recht habe. Und da ist mein Blick auch auf das Foto von dem Jungen gefallen. So, und jetzt sag mir, ob die nicht gleich sind.«
»Gleich spitz«, bestätigte Rimediotti, während er überzeugt nickte. »Sehen aus wie Vater und Sohn.«
Ampelio feixte.
»Oh, Gino, wachst du manchmal auch auf, bevor du morgens aus dem Haus gehst?«
»Ich hab’s nicht verstanden«, antwortete Gino, während er sich zu Ampelio vorbeugte.
»Das ist ja mal was ganz Neues«, flüsterte Ampelio.
»Ich erklär’s dir, Gino«, sagte Aldo, indem er die Zeitung aus Pilades Händen nahm und sie schlampig zurechtknüllte, während Massimo vor Abscheu schauderte. »Der Carpanesi und die Corucci haben ’94 Doktorspielchen im Freien gespielt. Giacomo Fabbricotti, der dem Carpanesi so verblüffend ähnlich sieht, ist am 1. März ’95 geboren. Wie viel macht zwei und zwei?«
Sieben
Das zweite Axiom des Klatsches besagt: »Wenn es logisch plausibel ist, dann ist es wahr.« Unter professionellen Lästermäulern braucht man keine Beweise, um das Urteil zu fällen; wenn ein Ereignis glaubhaft rekonstruiert und allen Personen kohärente Verhaltensweisen zugeschrieben werden können, also dann sind die Dinge auch so passiert, wie wir das sagen, daran ist nichts zu deuteln.
In seiner Rolle als Richter, nur mit dem Billardstock anstatt des Hammers in der Hand, rekapitulierte Aldo die Lage: »Mir scheint alles ziemlich klar. Carpanesi muss Pater Adriano gebeichtet haben, dass er Giacomos leiblicher Vater ist. Und jetzt, mit dem ganzen Durcheinander, das da rausgekommen ist, geht der gute Bruder Adriano zu Fusco, um es ihm zu sagen.«
»Ja, klar«, fuhr Ampelio fort. »Er ist sein Sohn, also erpresst sie ihn. All die ganzen Moneten auf den Konten können nichts anderes bedeuten. Und an einem bestimmten Punkt kann er nicht mehr und bringt sie um!«
»Ja, aber eins hab ich noch nicht verstanden«, wandte Pilade ein. »Man macht doch so was nicht ohne Motiv. Also, ich sag’s dir noch mal: Erklär mir bitte, warum die Corucci es deiner Meinung nach nötig gehabt haben soll, den Carpanesi zu erpressen?«
»Na, weil sie an die Kohle wollte. Manche Leute kriegen den Hals eben nie voll.«
»Also, ich weiß nicht. Mir kommt das reichlich seltsam vor.«
»Ich bin mir gar nicht mal so sicher, ob die Corucci wirklich so reich war«, warf Rimediotti ein. »Diese Leute sind doch hinter schönen Dingen her. Autos, um nur
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