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Die Einsamkeit des Chamäleons

Die Einsamkeit des Chamäleons

Titel: Die Einsamkeit des Chamäleons Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Holland Moritz
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trug schwarze Jeans und ein neongrünes T-Shirt unter einer schwarzen Lederjacke. Seine Hände griffen nervös ineinander, die Fingernägel waren brüchig. Ihnen gegenüber saß ein T-Shirt mit den Worten Hungry German Youth darauf und einem besonders dürren Kerl darin.
    Â»Schon in Ordnung. Wir sind in Tempelhof. Lass uns aussteigen.«
    Am Blumenladen wurden Schnittblumen aus Kartons gepackt. Rebekka entdeckte am Boden ein Messer mit Plastikgriff und langer Klinge, gedankenlos beiseitegelegt und vergessen. Das Bild prägte sich ihr ein, und sie wurde es für eine ganze Weile nicht mehr los.
    Jörn trottete neben ihr, ohne einen Blick für die Menschen und Dinge um ihn herum.
    Freitagabend in Berlin, der Juni fühlte sich an manchen Tagen wie Oktober an. Eine Imbisskneipe am S-Bahn-Ausgang. Unter deren Holzverschlag, zum Schutz vor Wind und Regen mit Plastikfolie abgedichtet, saßen Gäste wie Insassen am Tisch. Lebenslänglich! Rebekka schüttelte unmerklich den Kopf. Das war keine anheimelnde Freitagsrunde, nach der sich jeder in sein eigenes Wochenende verabschiedete. Das hatte nichts mit dem Wohlgefühl zu tun, das den fünften Wochentag umgab und sie sogar auf dem Marktplatz in Tulle heimgesucht hatte. Diese Runde hier fand täglich und rund um die Uhr statt, unterbrochen lediglich vom einsamen Torkeln nach Hause zur Musik von Spreeradio . Tief liegende Wangen, Gelächter, bei dem die Augen nicht mitmachten. Drei Türen weiter ein leeres Café, vor dem ein älteres Paar beim Bier saß. Leere Blicke in Richtung Rebekka und Jörn.
    Â»Hier?«, fragte Rebekka in Richtung des Biergartens mit abgeschabten Tischen und Stühlen und nassen Zweigen und Kippen auf dem Boden.
    Â»Gleich, aber ich möchte etwas essen, du auch?«
    Sie gingen in das Café hinein, und Rebekka wusste beim ersten Blick auf die Auslagen, dass sie hier nichts essen würde.
    Â»Nicht für mich. Wenn dir der Appetit noch nicht vergangen ist, dann such dir etwas aus.«
    Â»Falls du für mich bezahlen wolltest: Ich habe selber Geld!«, entgegnete Jörn schroff und ging nach draußen an den einzigen Tisch mit Wachstuchdecke.
    Rebekka folgte ihm.
    Â»Ich wollte dich nicht einladen«, sagte sie wahrheitsgemäß, »wie käme ich denn dazu?«
    Jörns Gesicht strahlte zum ersten Mal.
    Â»Gut!«
    Er schaute sich um und rief nach der Wirtin, die sich schwerfällig erhob.
    Â»Zwei Radler und was Herzhaftes bitte.«
    Â»Herzhaft hammer nur Currywurst und Kartoffelsalat. Sonst nur Kuchen.«
    Â»Dann das Herzhafte.«
    Kurz darauf standen zwei Biergläser vor ihnen. Sie stießen an.
    Jörn lehnte sich zurück, das Glas in der Hand.
    Â»Weißt du, was das Schlimmste ist, wenn man sich selbst noch jung fühlt, und der Vater oder die Mutter stirbt?«
    Rebekka horchte auf. Jörn hatte mit dem Vater nun auch den zweiten Elternteil verloren. Als sie das Flackern in seinen Augen sah, griff sie beruhigend zu seiner Hand.
    Â»Sag’s mir.«
    Â»Dass man selbst der Nächste ist.«
    Jörn trank einen großen Schluck und stellte das Glas behutsam wie eine Chinavase wieder zurück auf den Bierdeckel.
    Â»Die haben es mir genommen, für immer, dieses schöne Gefühl des Jungseins, des Kindseins und der Unendlichkeit der Zeit.«
    Â»Wer sind die ?«, hakte Rebekka vorsichtig nach. Der Anblick dieses erwachsen aussehenden Jungen berührte sie sehr.
    Jörn ging nicht auf ihre Frage ein.
    Er nickte in Richtung des schweigenden Paares vor dem Café. »Schau sie dir an.«
    Vom Tempelhofer Feld gegenüber kam eine Truppe aus Eltern und Kindern vorbei, die Väter und ihre kleinen Söhne hatten Luftballons an ihre Rucksäcke gebunden, die Mütter liefen, ins Gespräch vertieft, hinterher. Die Fröhlichkeit und Unbeschwertheit der Passanten kamen nicht an bei dem Wirtsehepaar. Das Geschehen schien für die beiden so wenig abwechslungsreich wie der S-Bahn-Verkehr oben auf der Brücke zu sein.
    Â»Sitzen da, warten auf Gäste, die nicht kommen, weil Kneipe und Garten völlig verkeimt sind. Wissen, dass es egal ist, ob Freitag ist oder Montag, weil sich die Tage eh nur durchs Wetter unterscheiden. Vom Alter her könnten das meine Eltern sein. Nur dass die nun nebeneinander auf dem Friedhof vor sich hin rotten und gerne noch einen solchen Tag geschenkt bekommen hätten. Und noch einen. Und noch

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