Die Einsamkeit des Chamäleons
sich löste. Es galt entweder, stärker am Seil zu ziehen oder geduldig an der Verknüpfung zu nesteln, dann wäre es so weit. Sie wartete nur noch das Bier ab.
»Hier«, sagte die Wirtin barsch, »wir schlieÃen dann auch.«
Sie stieÃen an und tranken.
»Warum hast du deinen Job bei Recycling, Verschrottung und Co. hingeschmissen?«
»Vor allem, weil ich nicht mehr dort ein und aus gehen wollte, wo mein Vater ebenfalls ein und aus ging. Dann dieses ganze Gesäusel von Milchmeyer und den Kollegen.«
Rebekka blieb angespannt, alle Sinne waren geschärft, den jungen Mann hatte sie fest im Blick.
»Wenn du sagst âºvor allemâ¹, was ist es noch?«
»Du würdest nicht so penetrant fragen, wenn du nicht selbst irgendwelche Hintergedanken hättest.«
Jörn trank sein Glas in groÃen Schlucken leer und stellte es geräuschvoll auf den Tisch. Mit verschränkten Armen lehnte er sich zurück und schaute Rebekka herausfordernd an.
»Stimmt.«
Rebekka beschloss, etwas aus der Deckung zu kommen, bevor Jörn völlig zumachen und wieder in seine Umnachtung abtauchen würde.
»Meine Mutter hat mir noch einiges mehr erzählt. Dein Vater â¦Â«
Jörn zog die kaum sichtbaren Augenbrauen hoch. Rebekka hielt kurz inne, doch sie konnte keine Spur von Ablehnung in seinem Blick erkennen.
»⦠schien noch immer unter dem frühen Tod eurer Mutter gelitten zu haben. Darf ich dich was fragen?«
»Nur zu«, sagte Jörn lakonisch. »Das tust du ja eh die ganze Zeit.«
»Ulrike sagte, eure Mutter sei an Krebs gestorben.«
»Unser Ulrikchen war damals grad eine kleine Schulanfängerin. Was weià die schon? Die hat behalten, was Vater ihr erzählt hat. Und ein Krebstod ist allemal besser, als ein Strick um den Hals deiner eigenen Mutter.«
Rebekka spielte gar nicht erst die Ãberraschte.
»Warum hat sie sich umgebracht?«
Jörn rückte ganz nah an Rebekka heran. Seine Augen waren jetzt von einem satten, klaren Grün wie die Wiesen in Kerry. Statt seines schmuddeligen ÃuÃeren nahm Rebekka nur noch den Geruch von Sauberkeit wahr, der ihr das letzte Mal beim Besprühen ihres Kopfkissens im Gartenhaus begegnet war.
»Hast du so viel Zeit, dich um so olle Kamellen fremder Leute zu kümmern? Obwohl es deinem Partyservice so schlecht geht, wie du meiner Schwester erzählt hast?«
Aus dem verlorenen Bürschlein war von einem Moment auf den anderen ein provozierender ganzer Kerl geworden. Und er schien Vertrauen zu Rebekka gefasst zu haben.
»Oder hat deine Mutter doch mehr mit meinem Vater geteilt als nur den Kaffee?«
Das ist auch eine Idee. Eine sehr gute sogar.
»Das glaube ich weniger«, entgegnete Rebekka. »Aber ich fühle mich tatsächlich zu euch hingezogen. Und bedaure es sehr, euren Vater nicht kennengelernt zu haben. Warum hat sie sich umgebracht?«
»Meine Mutter fühlte sich verfolgt. Pah ⦠wie wohl jeder Dritte damals. Unser Pfarrer, der auch die Andacht auf der Beerdigung meines Vaters gehalten hat, war ihr einziger Vertrauter.«
Rebekka erinnerte sich an einen Fall, der durch die Presse ging. Der Ehemann war der Stasispitzel seiner eigenen Frau gewesen. Anneliese Otto war in Hohenschönhausen vernommen worden. Ihr Mann hatte ihr bei der Rückkehr Vorwürfe gemacht. Recycling, Verschrottung & Co. hatte auch Aktenvernichtung im Angebot. Hatten Ulrike und Jörn in der Firma mitbekommen, wie ihr Vater dabei mitmischte? Hatte er versucht, durch seine eigene Position in der Recyclingfirma seine eigene Vergangenheit, die ja noch in irgendeinem Archiv liegen musste, zu beseitigen? Wiederholt gab es Meldungen über illegale Schredderaktionen in den höchsten bundesdeutschen Behörden. Solange es Menschen und somit Betroffene waren, die über ihre eigene Vergangenheit wachten, konnte die gleiche Vergangenheit auch von Menschen manipuliert werden. Immer deutlicher wurde Rebekka die Vorstellung, Karl-Heinz Ottos Tod hinge nicht mit den anderen Todesfällen zusammen. Und das war ein Gedanke, der ihr bisheriges Ideenhaus zum Einsturz brachte.
»Lass uns gehen«, sagte Jörn, »morgen ist ein langer Tag, und ich beginne mit der Frühschicht. Und wir S-Bahner starten sehr früh.«
Sie schaute ihn an. Nahm seine Hand. Und sah tatsächlich das erste Mal ein breites Lächeln auf seinem Gesicht.
Zeugen gesucht
Junger
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