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Die Einsamkeit des Chamäleons

Die Einsamkeit des Chamäleons

Titel: Die Einsamkeit des Chamäleons Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Holland Moritz
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einen. Nur die hier«, angewidert wandte er seinen Blick ab, »haben nichts verstanden, gar nichts.«
    Â»Was sollten sie denn verstehen?«, fragte Rebekka behutsam. Ihr Blick wanderte wie unbeteiligt an der Kulisse aus Café, Handyladen und Imbisskneipe entlang.
    Jörns Augen blickten müde. Diese Müdigkeit hatte sich am Abend der Beerdigung in seinem Gesicht breitgemacht. Nun hatte sie ihn komplett übermannt. In Jörns Alltag gab es ganz offensichtlich keine wachen Momente mehr.
    Â»Sie sollten vielleicht ganz einfach mal verstehen, dass das hier nicht mehr die Probe ist, sondern schon der Auftritt, nach dem der Vorhang fällt!«
    Von der Luftballonfamilie war ein kleiner Junge etwas hinter den anderen zurückgeblieben. Sein Vater ließ ihn gewähren und beobachtete ihn aus wenigen Metern Entfernung. Unmittelbar neben dem Jungen machte sich ein alter Mann in einer abgeschabten Cordhose und einem fleckigen Anorak an einem Müllbehälter zu schaffen. Er zwängte seinen Arm hinein und stand da in skurriler Verbeugung. Während seine Hand in dem Unrat wühlte, richtete der Mann seinen Blick in den Himmel über dem Tempelhofer Feld. Was seine Hand da unten erfühlte, malte er sich in die Wolken. Enttäuscht, kein Leergut oder sonst wie Brauchbares gefunden zu haben, zog er die Hand wieder heraus.
    Rebekka hatte Flaschensammler mit Handschuhen gesehen, dieser hier trug keine und leckte vor dem erstaunten Blick des Jungen seine Hand wie eine Eiswaffel ab. Erst dann holte er ein Taschentuch aus seiner Manteltasche und rieb sich jeden einzelnen Finger trocken.
    Der Luftballon am Rucksack des Vaters hüpfte wie wild auf und ab, als er nach seinem Sohn griff und ihn mit sich wegzog, während sich der Kleine immer weiter staunend nach dem Alten umdrehte.
    Â»Hier war das Büro meines Vaters.«
    Rebekka zuckte zusammen, als Jörn nach langem Schweigen zu reden begann.
    Â»Ich weiß.«
    Er musterte sie nun aus engen Augenschlitzen.
    Â»Musst es ja wissen, wenn deine Mutter hier gearbeitet hat. Seit wann hat sie denn hier einen Job gehabt?«
    Rebekka spürte Jörns unvermittelte Wachheit. Er schien gedanklich auf etwas gestoßen zu sein und kostete das nun aus. Mit absoluter Ruhe zog Rebekka das richtige Register und wiederholte die Lüge wortgetreu, mit der sie sich der Familie schon einmal vorgestellt hatte.
    Â»Die letzten zwei Jahre bis zu ihrer Rente. Um die zu feiern, flog sie nach Ägypten und starb dort an einem Hitzschlag. Meine Mutter und dein Vater trafen sich hin und wieder auf einen Kaffee. Das Büro, in dem meine Mutter noch für ein paar Stunden die Woche ihre Rente aufbesserte, war ganz in der Nähe der Firma.«
    Â»Stimmt«, entgegnete Jörn wie ein mit der Antwort seines Schülers zufriedener Lehrer.
    Â»Und hier war bis vor Kurzem auch noch dein Büro«, fügte Rebekka hartnäckig hinzu.
    Jörn schaute sie befremdet an.
    Â»Wenn sie dir schon meine Handynummer gegeben hat, dann hat dir Ulrike wahrscheinlich auch von meinem Auftritt in der Firma erzählt.«
    Â»Hat sie. Was ist passiert?«
    Â»Warum interessiert dich unsere Familie so sehr? Ich hab – im Gegensatz zu meinem völlig überflüssigen Bruder Nils – nichts dagegen, aber ich möchte es gerne wissen.«
    Â»Du verstehst dich nicht gut mit Nils?«
    Â»Und du beantwortest eine Frage mit der nächsten. Bist du eine Freizeitpsychologin oder so eine Esoteriktante?«
    Rebekka trug ein Kopftuch, das im Nacken geknotet war, schwarze Marlene-Dietrich-Hosen, Doc Martens und über einem weißen Seiden-T-Shirt ihre ranzige Lederjacke. Sie lachte laut, und das müde Pärchen schaute kurz auf. Rebekka nutzte die Gelegenheit und bestellte noch zwei Bier.
    Â»Vielleicht bin ich ja einsam genug, um mich nach einer Familie wie deiner zu sehnen. Vielleicht hab ich in euch Freunde, die ich sonst nie hätte.«
    Jörn schaute sie abschätzend an.
    Â»Eine große Familie schützt nicht vor Einsamkeit. Schau mich an.«
    Â»Warum halten dich alle für kaputt?«
    Rebekka ging kein Bisschen auf den selbstmitleidigen Ton ein. Und das schien ihm zu gefallen.
    Â»Tun sie das?«
    Jörn tat überrascht, strengte sich bei seiner Schauspielerei allerdings nicht sonderlich an.
    Rebekka kam diesem einen Moment näher, den sie jedes Mal aufs Neue so sehr herbeisehnte: den Moment, an dem der erste Knoten

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