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Die einzige Blume im Sumpf - Geschichten aus Ägypten

Die einzige Blume im Sumpf - Geschichten aus Ägypten

Titel: Die einzige Blume im Sumpf - Geschichten aus Ägypten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenos Verlag
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rief die Polizei und die Verantwortlichen um Hilfe. Was dann passierte, bis ich wieder zu Hause war, weiss ich nicht.
    Am darauffolgenden Tag brachten sie mich hierher, wo ich jetzt bin. Wie das geschah? Ich entsinne mich, dass ich zu Beginn der Nacht aufgewacht bin. Ich lag auf meinem Bett, fühlte mich völlig erschöpft und hatte starke Schmerzen. Meine Mutter schaute mich besorgt und ärgerlich an. »So weit also ist es mit dir gekommen!« sagte sie. »Du hast die Zukunft deines Bruders ruiniert. Hast du denn nicht daran gedacht, dass er Offizier ist? Wegen dir muss er jetzt seine Arbeit aufgeben. Kannst du diesen Unsinn denn nie lassen und schweigen? Dir gehört, weiss Gott, die Zungeabgeschnitten!« Dann brach sie in Tränen aus und verliess das Zimmer.
    Ich starrte eine Weile an die Zimmerdecke und dachte darüber nach, was sie gesagt hatte, rief es mir Wort für Wort ins Gedächtnis zurück und begriff, dass ich tatsächlich einen Fehler gemacht, ja ein Verbrechen begangen hatte. Wie hatte ich so etwas tun können, ohne vorherzusehen, welche beruflichen Konsequenzen sich daraus für meinen Bruder ergäben? Wie hatte ich so weit gehen können, ohne daran zu denken, dass ich ihn dabei schädigte? Plötzlich sah ich in Gedanken mein eigenes Bild. Ich war noch klein. Meine Mutter hatte gedroht, mir mit der Schere die Zunge abzuschneiden, weil ich meinem Vater, als er von der Arbeit zurückkam, verraten hatte, dass mein Bruder im Salon beim Ballspielen die chinesische Vase zerbrochen hatte. Als mein Vater dann am Abend ins Café gegangen war, nahm meine Mutter die Schere und drängte mich in eine Zimmerecke. Sie öffnete die Schere und kam mir bedrohlich nahe. Sie hiess mich meine Zunge weit herauszustrecken und tat, als wollte sie sie abschneiden, damit ich niemals wieder ein Geheimnis verraten könnte. Ich schrie vor Angst und Schrecken und flehte sie an, es nicht zu tun. Ich zeigte mich reumütig, entschuldigte mich und sagte, es sei nur ein Versehen von mir gewesen. Mein kleiner Bruder stand dabei, ergötzte sich an meinem Anblick und lachte. Ich erinnerte mich genau daran, während ich noch immer an die Zimmerdecke starrte und dachte: Was würde wohl passieren, wenn ich wirklich meine Zunge abschnitte? Wären damit nicht alle meine Probleme zu Ende? Würde ich dann nicht für immer schweigen? Ich könnte mich damit begnügen, all das, was um mich herumgeschieht, nur zu beobachten, ohne meine Meinung dazu zu sagen. Wäre das nicht leichter als Selbstmord? Ich hatte schon oft an Selbstmord gedacht, hatte versucht, mir mit einem Rasiermesser die Pulsadern aufzuschneiden, im letzten Moment aber doch davon Abstand genommen, weil ich mich erstens vor dem Tod fürchtete und zweitens Angst hatte, als Ungläubige zu sterben und nicht ins Paradies zu kommen. Noch mehr fürchtete ich die Schmerzen. Deshalb verzichtete ich darauf. Aber mit der Zunge war das etwas anderes. Wenn ich sie abschneiden würde, bedeutete das nicht gleich den Tod. Ich würde nur die Fähigkeit einbüssen, zu sprechen und zu artikulieren. Ich war in höchstem Masse erregt, und mit diesem Gedanken erhob ich mich vom Bett und stellte mich vor den Spiegel. Ich betrachtete mein Gesicht, das mit den dunklen Augenringen und der gelblichen Haut ganz fremd aussah. Ich streckte meine Zunge heraus, bis das Gaumenzäpfchen sichtbar wurde. Sie war lang und breit und blutrot. Ich sagte: »Fürchte dich nicht, meine liebe Zunge, du kleines Stück Fleisch. Ein bisschen Blut und ein paar Schmerzen. Dann hören alle deine Qualen für immer und ewig auf.« Es war gegen neun Uhr, als ich über diese »Beschneidung« nachdachte und fand, es sei nichts dagegen einzuwenden. Ich griff nach der Schere, die unter dem Spiegel auf der Frisiertoilette lag, öffnete sie ganz weit, wie es meine Mutter damals getan hatte, und schickte mich an, meine Zunge zwischen ihre Schneiden zu bringen.
    Es muss wahrhaftig mit dem Teufel zugegangen sein, dass meine Mutter gerade in diesem Moment kam und mir die Schere entriss. Ich weiss es nicht genau, aber sie stand plötzlich vor mir, stürzte sich auf mich und riss sie mir aus derHand. Dann schrie sie und klagte, so dass die Nachbarn und die Leute von der Strasse zusammenliefen. Wenig später brachten sie mich an diesen Ort. Ich weiss nicht, wie lange ich schon hier bin. Vielleicht einige Jahre. Meine Mutter, die mich oft besuchte und mit mir sprach, ohne dass ich ihr antwortete, kommt nicht mehr. Mein Bruder, der mich noch von Zeit zu

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