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Die einzige Blume im Sumpf - Geschichten aus Ägypten

Die einzige Blume im Sumpf - Geschichten aus Ägypten

Titel: Die einzige Blume im Sumpf - Geschichten aus Ägypten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenos Verlag
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Zeit besucht, sagt nichts. Ich habe meine Geschichte allen um mich herum erzählt, den Ärzten und Krankenschwestern, aber sie lächelten nur und tätschelten mir den Rücken. Ich versuchte, ihnen begreiflich zu machen, dass ich dachte, wenn ich mir die Zunge abschneide und auf das Sprechen verzichte, dann hätte ich keine Probleme mehr. Aber das nützte nichts.
    So schreibe ich diese Worte jetzt auf. Vielleicht liest sie jemand und erfährt so die Wahrheit über mein Leben und über mein unterdrücktes Dasein. Ich wurde gewaltsam an diesen Ort gebracht. Ich schreibe, weil ich immer mehr das Gefühl habe, bald zu sterben. Mein Körper ist verwelkt, mein Haar weiss geworden, und meine Beine sind nicht mehr in der Lage, mich zu tragen. Trotzdem hoffe ich noch immer, diesen Ort verlassen zu können, und sei es nur für eine Stunde, um meine Stadt und die Strasse zu sehen, die ich in mein Herz geschlossen und an der ich mich so oft erfreut habe. Wenn ich doch dann einunddreissig schöne grüne Bäume sehen könnte! 4

Die einzige Blume im Sumpf
    Es war einmal ein grosser weiter Sumpf. An seinen Rändern zogen sich Schilf und Gestrüpp dahin, durchbrochen mitunter von seltsam tristen Pflanzen. Seit langer Zeit konnten sich da und dort an der Oberfläche satte dunkelgrüne Algen immer weiter ausdehnen, so dass es schliesslich dem leichten Wind nicht mehr gelang, auch nur einen einzigen Tropfen des brackig-morastigen Sumpfwassers zu bewegen.
    Hin und wieder hörte man ein Reptil – eine Schlange oder eine Eidechse – oder irgendein Insekt; sonst schien der Sumpf völlig leblos, und das Schweigen, das darüber lag, machte den Ort noch hässlicher und trister und hinterliess ein bedrückendes, melancholisches Gefühl von der Vergeblichkeit des Lebens.
    Doch es wuchs da, am fernen Rand des Sumpfes, eine einzige weisse Blume, hoch und wundervoll, mit zartsamtenen Blättern, schöner als eine Narzisse, üppiger als eine Lotusblume. Unmöglich zu sagen, woher sie kam oder wie sie mitten an jenem seltsam tristen Ort wachsen konnte oder wie sie sich in ihrer vollen Üppigkeit entfaltete, mit ihrem feinen Duft, der sich leichthin ausbreitete, wie eine leise Musik, von fern her.
    Die weisse Blume bemerkte ihre Schönheit, nahm ihren Duft wahr und beobachtete all das Hässliche, das sie umgab. Da werde ich also mein kurzes Leben in diesem abscheulichen Sumpf zubringen, klagte sie. Alle Blumen entfalten sich, verströmen ihren Duft und vollenden ihre Schönheit,um das Leben prächtiger und schöner zu machen, und ich stehe hier in diesem traurigen Sumpf, einsam wie der erste Abendstern. Mein Stengel trinkt vom brackigen Wasser, und an meiner Seite ziehen allerhand Käfer vorbei, ohne Notiz von mir zu nehmen. Und meine makellose Figur wird verunstaltet, wenn sie sich auf der ekelhaft brackigen Wasseroberfläche spiegelt. Ach, wenn ich doch einer jener schönen Vögel am Himmel wäre! Ich würde weit, weit weg von diesem hässlichen Ort ziehen, an dem das Leben vorübergeht, den keine honigsammelnden Bienen und keine blumenumgaukelnden Schmetterlinge aufsuchen. Wenn ich doch eine Blume in einem üppigen Garten wäre! Ich würde am Abend wie am Morgen die Nachtigallen schlagen und die Lerchen jubilieren hören. Wenn ich doch mit Anemonen zu einem Strauss gebunden würde! Ich könnte sein, was Freunde sich beim Wiedersehen nach langer Zeit schenken.
    Dann flehte die zarte Blume zum Himmel, er möge ein Geschöpf, einen Menschen schicken, der den Sumpf durchquert, sie erblickt und sie mit erbarmender Hand aufnimmt, um sie einer Braut ins Haar zu flechten oder sie in eine hübsche Vase zu stellen, damit sich ihr Duft, bevor sie denn einst stürbe, verbreiten könnte.
    Die Zeit verging, und die weisse Blume wurde immer trauriger. Schmerz und Kummer zerrissen sie, weil sie keine Flügel besass, mit denen sie sich in die Luft erheben und weit wegfliegen, auch keine Stimme, die sie zum weithin hörbaren Gesang erheben konnte. Ja, sie wurde immer trauriger, je mehr sie daran dachte, dass sie nicht einmal imstande war zu schreien. Sonst hätte sie protestiert, hätte ihrem Verdruss über diesen Sumpf, seinen Gestank und sein unerträglich fauliges Wasser Luft gemacht.
    So ging Zeit um Zeit dahin, und die einzige Blume im Sumpf, die arme, die weisse, wartete und wartete, und sie begriff, dass nichts anderes als der Tod ihrer harrte, ihrer, der elenden unbekannten Blume, auf die keines einzigen Wesens Auge je gefallen ist und die, von ihrer

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