Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)
laut jubeln. Stattdessen beiße ich, so fest ich kann, in Paolos Hand. Er flucht und lockert seinen Griff, sodass ich mich hinter Eios Tisch flüchten kann. Ich reiße das Klebeband mitsamt der Spritze von meiner Hand, überlasse es Onkel Antonio, sich um die Wissenschaftler zu kümmern, schnappe mir ein Skalpell und beginne die Gurte durchzutrennen, mit denen Eio gefesselt ist.
»Antonio«, beginnt Paolo jovial, so als hätten sie sich gerade in der Schlange vor der Frühstücksausgabe getroffen. »Sohn? Hört, hört… gibt es noch weitere Geheimnisse, die du uns verraten möchtest?« Seine Augen glänzen. Der Blick ist stahlhart und voller Wut, voll unbändiger Wut.
»Ich hab gesagt, weg da!« Onkel Antonios Augen schleudern Blitze. Sie sehen so gefährlich aus wie die schweren Waffen in seinen Händen. Wo kommen denn die auf einmal her? Wahrscheinlich aus Timothys geheimem Lager. Dass es so viele Geheimnisse in Little Cam gibt, hätte ich nie gedacht. Und Onkel Antonio kennt offensichtlich eine ganze Menge davon.
Die Wissenschaftler richten sich langsam auf und drängen sich in der Ecke zusammen, in der vorher Tante Harriet kauerte. Sie haben die Hände erhoben oder hinter dem Kopf verschränkt. Alle haben nur Augen für die Waffen.
»Uns bleibt nur wenig Zeit, Pia«, warnt Onkel Antonio. »Die anderen werden bald hier sein.«
Der letzte Gurt ist erst halb durchgeschnitten, doch Eio zerreißt ihn vollends und springt auf die Füße. Wir laufen zu Onkel Antonio, erst als wir hinter ihm in der Tür stehen, geht er langsam rückwärts hinaus.
»Pia!«, schreit Paolo. »Komm zurück, Pia. Bitte. Wir finden eine Lösung. Es gibt immer einen Ausweg. Du kannst immer noch Wissenschaftlerin sein, immer noch deinen Traum leben –«
»Es war nie mein Traum«, antworte ich. »Es war deiner. Du hast mich nur glauben gemacht, es sei meiner. Aber jetzt habe ich einen neuen Traum. Und soll ich dir was sagen?« Ich blicke ihn direkt an. »Du kommst nicht darin vor.«
»Komm rüber, Paolo«, fordert Onkel Antonio ihn auf. »Sofort.«
Langsam richtet auch Paolo sich auf, doch als Onkel Antonio ihn ungeduldig anschreit, bewegt er sich schneller. Onkel Antonio drückt Eio eine seiner Kalaschnikows in die Hand, packt Paolo am Oberarm und schiebt ihn als Schild vor sich her. Paolo sagt nichts, aber seine Blicke folgen mir wie zwei Laserstrahlen.
Die anderen lassen wir in der Ecke zurück.
Und rennen wie der Teufel.
34
Als wir aus der Tür von Laborblock A stürmen, fällt mir als Erstes auf, dass es endlich aufgehört hat zu regnen. Die Welt ist bunt und klar, als sei sie frisch gestrichen worden, und das drei Schattierungen zu hell. Ich fühle mich schutzlos und verletzlich, trotz Onkel Antonios Kalaschnikows. Die Leute laufen schon zusammen. Nachrichten verbreiten sich schnell in Little Cam.
Das Geräusch von Schüssen anscheinend auch.
»Zurück!«, brüllt Onkel Antonio. Er schwingt sein Gewehr wie eine Sense. Eio zielt mit seinem auf Paolos Kopf. Ich bin überrascht, wie ruhig seine Hände sind, trotz seiner Abneigung gegen die Waffe. Allerdings hätten sein Pfeil und Bogen wahrscheinlich nicht unbedingt dieselbe Wirkung auf die heranrückende Menge.
Es ist einer der seltsamsten Momente in meinem bisherigen Leben. Ich bin von vertrauten Gesichtern umgeben, doch die Augen, die mich anstarren, sind die von Fremden. Es sind die Leute, bei denen ich aufgewachsen bin, die mich unterrichtet haben, mit mir gegessen und meinen Geburtstag gefeiert haben. Jonas und Jacques und Sergei. Selbst Tante Brigid und Tante Nénine. Sie alle schauen uns mit eisiger Miene an. Ihre Blicke brennen teils heiß, teils kalt. Einige scheinen verwirrt.
Wer seid ihr alle? Was habt ihr mit meinem Little Cam gemacht?
Falls Tante Harriet unter ihnen ist, gelingt es ihr, sich vor mir zu verstecken. Was wahrscheinlich das Beste ist. Es könnte sein, dass ich Onkel Antonio bitten würde, sie zu erschießen, falls sie sich zeigt.
Und wo sind meine Eltern?
Plötzlich hören wir schwere Schritte. Timothy und ein Dutzend seiner Männer schieben sich durch die Menge. Sie sind alle bewaffnet und einige haben Gewehre dabei, die noch größer sind als die von Onkel Antonio.
»Bleib dicht hinter mir, Eio«, flüstert Onkel Antonio. »Du bist nicht kugelsicher wie Pia.«
Wir stehen dicht beieinander, Paolo, immer noch stocksteif, vor uns.
»Aus dem Weg!«, befiehlt Onkel Antonio.
»Antonio, mein Freund«, beginnt Timothy leise, »ich fürchte, es gab
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