Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)
Vorwurf.«
Ich löse mich aus ihrer Umarmung. »Wenn ich nicht gewesen wäre, Luri –«
»Wenn du es nicht wärst«, unterbricht sie mich ruhig, »wäre es jemand anders. Und wer weiß? Jemand anders hätte vielleicht nicht so ein gutes Herz wie du. Vielleicht wäre es schlimm für uns ausgegangen. Aber was nicht ist, braucht uns nicht zu beschäftigen; wir sollten uns Gedanken machen über das, was ist. Und Tatsache ist, dass du, Py’a, dich als Freundin der Ai’oaner erwiesen hast. Nein… du hast bewiesen, dass du selbst eine Ai’oanerin bist.« Sie ist nicht ganz so groß wie ich, doch als sie mir in die Augen sieht, wirkt sie viel, viel größer. »Du hast gesagt, unser Blut fließt in deinen Adern. Gut. Wir sind stolz darauf, dich in unserer Mitte zu haben.«
Der Schraubstock, in den mein Herz eingespannt schien, lockert sich etwas. Am liebsten würde ich die Arme um sie schlingen und meinen Tränen freien Lauf lassen. Ich möchte, dass sie mich festhält, wie meine Mutter es nie getan hat, so wie sie die kleine Ami festhält, und ich möchte, dass sie mir versichert, alles wird gut. Doch es ist noch zu viel Schmerz in mir und so balle ich die Hände zu Fäusten und blicke zu Boden.
Luri hebt mit einem Finger mein Kinn. »Es gibt Monster auf dieser Welt, kleine Tapumiri.« Sie steckt mir eine Elysia-Blüte hinters Ohr, streicht mir das Haar aus dem Gesicht und lächelt. »Aber du bist keines. Nimm dir die Toten nicht zu Herzen. Überlasse sie den Göttern. Der Tod ist nicht immer traurig – für einige bedeutet er das Tor in eine Welt, in der jeder Yresa trinkt und alle unsterblich sind.«
Durch einen Tränenschleier hindurch schaue ich sie an. Es ist eine wunderschöne Vorstellung, aber sie nimmt nur einen winzigen Teil meines Schmerzes.
Auf der anderen Seite der Schlucht sehe ich die Krieger, die nach Eio gesucht haben. Sie kommen ohne ihn zurück. Ich ziehe scharf die Luft ein. Vor lauter Tränen sehe ich alles nur noch verschwommen.
Luri dreht mein Gesicht so, dass ich sie wieder anschauen muss. »Eio ist stark und er kann auf sich selbst aufpassen. Mach dir um ihn keine Sorgen.«
Der Atem scheint in meiner Kehle zu gefrieren und ich muss mich beherrschen, um nicht auf der Stelle in den Dschungel zu laufen. Aber ich habe ihm versprochen, mich um die Ai’oaner zu kümmern, und all das Schlimme, das mein Leben in dieser Welt angerichtet hat, darf durch ein gebrochenes Versprechen nicht noch vermehrt werden.
Als wir alle Pflanzen eingesammelt haben, gehen wir zum Fluss. Es wird schon dunkel und eigentlich müssten wir schneller laufen. Aber ich kann sie nicht zur Eile antreiben. Für die Ai’oaner ist das, was wir tun, wahrscheinlich eine Art spirituelle Handlung. Vielleicht wird ja eine Tradition daraus. Vielleicht gehen die Ai’oaner jedes Jahr zu einer Schlucht, in der Pflanzen blühen, die sie dann pflücken und zum Fluss tragen. Vielleicht tun sie es auch noch in hundert Jahren, erzählen dazu die Geschichte vom Pia-Vogel, ohne genau zu wissen, was wirklich passiert ist, und halten das Andenken dennoch in Ehren.
Ich bedaure, dass man mir nicht mehr über die Religionen der Welt beigebracht hat. Wer weiß? Vielleicht gibt es irgendwo eine Antwort auf die Frage, was hinter allem steht. Wie sagte Paolo oft? Die Wahrheit findet immer einen Weg, sich zu offenbaren. Im Nachhinein möchte ich behaupten, es war das einzig Wahre, das er je von sich gegeben hat.
Wir erreichen den Fluss und werfen die Pflanzen hinein. Bald ist der Little Mississip voller Elysia. Etwas Schöneres habe ich noch nie erlebt – außer vielleicht an jenem Nachmittag am Badeplatz mit Eio und Ami, als wir alle lachten und glücklich waren und nichts ahnten von dem Bösen, das unsere Welt überschattete. Ich frage mich, wo Eio ist und warum er noch nicht zu uns gestoßen ist. Womöglich ist er allein, blutet stark oder liegt gar im Sterben. – Ich darf gar nicht daran denken und rufe mir ins Gedächtnis, was er gesagt hat: »Der Dschungel wird mich beschützen.«
Die letzte Blüte steckt noch hinter meinem Ohr. Ich ziehe sie hervor und betrachte den Nektar darin. Schönheit und Tod, so eng verflochten. Dies scheint das zentrale Thema in meinem Leben zu sein.
Ich werfe die Blüte ins Wasser. Im Gegensatz zu den anderen, die bereits den Fluss hinuntergetrieben und nicht mehr zu sehen sind, sinkt diese auf den Grund und taucht nicht mehr auf.
Als ich hochschaue, sehe ich am gegenüberliegenden Ufer ein Paar gelbe Augen
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