Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)
habe mich an einem zerbrochenen Reagenzglas in den Finger geschnitten, als ich die Rezeptur zusammenmischte. Ich dachte, ich hätte alles Blut sauber weggewischt, fand aber später heraus, dass ein Tropfen in die Mischung geraten sein muss.« Seine Stimme zittert und er fährt heiser fort: »Die Ameisen… sie sind gierig auf Menschenfleisch.«
»Was?«
Er räuspert sich, aber seine Stimme zittert immer noch, als er einen bandagierten Finger hochhält. Er wickelt die Binde ab und ich schlucke.
Der Finger sieht aus, als hätte er ihn in ein Glas Säure getaucht. Die Haut ist rot und zerbissen. Man sieht, dass Hunderte winziger Kiefer am Werk gewesen sind. »Sie haben mich angegriffen. Ich wollte das Wasser im Terrarium wechseln und da haben sie mich… angegriffen. Einfach so.«
Menschenfressende Ameisen. Ich habe von Ameisenarten gelesen, die Menschen auffressen können, aber noch nie, dass welche es speziell auf Menschen abgesehen haben. »Was, wenn sie entkommen –«
»– dann bin ich auf diesen unwahrscheinlichen Fall vorbereitet.« Er zeigt auf ein weißes Kästchen an der Wand, in dem ein breiter roter Hebel zu sehen ist.
Ich weiß sofort, worum es sich handelt. »Der Notruf.« In jedem Gebäude in Little Cam hängt ein solches Kästchen, selbst im Glashaus. Wird der Hebel betätigt, ertönt überall auf dem Gelände ein lauter Alarm, der die sofortige Evakuierung sämtlicher Bewohner zur Folge hat. Soviel ich weiß, wurde der Alarm noch nie ausgelöst.
»Und ich habe das hier.« Onkel Will öffnet einen Metallschrank unter dem Terrarium. Er ist voller Spraydosen mit Insektengift.
Ich tippe an eine Wand des Terrariums. Statt auseinanderzustieben, krabbeln die Ameisen übereinander und versuchen sich durch das Glas zu beißen, um an meinen Finger zu kommen.
»Hoffen wir, dass wir das Zeug nie brauchen«, sage ich. »Warum vernichtest du sie nicht, bevor sie ausbüxen und uns alle auffressen?«
Onkel Will fängt Babó wieder ein und setzt ihn in seinen Käfig zurück. »Wir können immer noch so viel von ihnen lernen«, erklärt er ein wenig verlegen. »Es ist das Risiko wert.«
Während er das Durcheinander, das Babó auf dem Tisch angerichtet hat, beseitigt, schiebe ich gedankenversunken eine Petrischale mit Wasser hin und her und beobachte die Wellen. Mein Kopf ist voll mit Erinnerungen an die vergangene Nacht, vor allem daran, wie unheimlich blau Eios Augen waren, als ich ihm mit der Taschenlampe ins Gesicht geleuchtet habe. Dann kommt mir plötzlich ein Gedanke.
»Onkel Will?«
»Hmm?«
»Wann hast du Little Cam das erste Mal verlassen?«
Er runzelt die Stirn, als er Styroporflocken in einen Papierkorb fegt. »Ich glaube, mit neun. Ich war ein oder zwei Stunden mit Dr. Sato draußen, um Spinnen zu fangen.«
»Neun! So jung!« Empört straffe ich die Schultern.
»Damals…« Er hält inne und verzieht das Gesicht. »Damals war alles anders.«
Ich bemühe mich nach Kräften, meinen Ärger über die Ungerechtigkeit nicht zu zeigen. Der Grund meiner Frage ist ein anderer. »Du meinst, vor dem Zwischenfall?«
»Ja.«
»Hast du jemals einen der Menschen gesehen, die im Dschungel leben?«
»Eingeborene?« Er zuckt mit den Schultern. »Ein paar. Warum?«
»Wie sind sie?«
»Wenn wir nicht zum Handeln kommen, gehen sie uns aus dem Weg.« Er runzelt die Stirn. »Moment. Ich weiß nicht, ob es Onkel Paolo recht ist, wenn ich dir das alles erzähle.«
»Vergiss Onkel Paolo«, bitte ich. »Erzähl mir mehr.«
Er schüttelt unsicher den Kopf. »Lieber nicht.«
»Onkel Will –«
»Pia, bitte.« Flehentlich schaut er mich an. »Lass uns mit dem Unterricht weitermachen, ja?«
Ich beobachte ihn schweigend, als er verschiedene Plastikbehälter mit Präparaten sortiert, und frage mich, ob er es je gewagt hat, sich hinauszuschleichen wie ich. Und wenn ja, würde er es mir erzählen? Nein. Er ist zu scheu, zu versunken in seine Welt aus Riesenbockkäfern und Armeeameisen. Ich kann mir nicht mal vorstellen, dass er beim Schachspielen schummelt, und erst recht nicht, dass er sich aus Little Cam hinausschleicht und nach Ai’oa geht.
Onkel Will wird zwar nicht meine Fragen beantworten… aber ich bin mir jetzt ziemlich sicher, dass Eio nicht mein Bruder ist.
Überrascht stelle ich fest, dass ich lächle.
Als meine Zeit bei Onkel Will um ist, gehe ich hinaus und sehe, dass es in Strömen gießt. Der Regen prasselt auf die Blumen im Garten und bringt den Fischteich zum Überlaufen. Ein Goldfisch wurde
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