Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)
Ökosystem oder auch nur eine einzige Zelle sein mögen, am Ende macht die Wissenschaft alles ganz einfach. Eine Formel kann die komplizierteste Zahlenreihe verständlich machen. In der Wissenschaft gibt es kein Vielleicht, außer in einer Hypothese. Und mit Hypothesen geht man nicht um wie mit einer Wahrheit, sie sind Sprungbretter, die dich in sorgfältige Analysen, Experimente und Dokumentationen katapultieren. Erst dann wirst du die Wahrheit finden, und wenn du das geschafft hast, ist alles wieder ganz einfach.
Onkel Paolo sagt, dass am Ende alles auf die Wissenschaft hinausläuft. Es gibt nichts, das wissenschaftliche Methoden nicht lösen können. Grenzen bestehen nur in den Fragen, an die wir noch nicht gedacht haben. Und er hat sich noch nie geirrt, also muss auch das stimmen. Schließlich hat er mitgeholfen, mich zu erschaffen. Wenn ich jemandem vertrauen kann, dann ist es Onkel Paolo.
Wenn ich noch einmal in den Dschungel gehe, bestärke ich all das in mir, das unwissenschaftlich ist. Anstatt zielstrebig vorwärtszugehen, mache ich zu viele Schritte zurück. Ich weiß, dass ich kurz vor dem Ziel bin, es kann gar nicht anders sein. Mein Leben lang habe ich darauf hingearbeitet. Kann ich es mir wirklich leisten, mich jetzt ablenken zu lassen?
Ich streiche mit den Fingern über meine Arme und stelle mir vor, es sei Eio – nein, nicht Eio –, jemand anders, ein anderer Junge, ein Junge mit einer Haut wie meine, der niemand eine Verletzung zufügen kann. Ein unsterblicher Junge. Mister Perfect.
Ich habe mich entschieden. Ich werde Onkel Paolo alles erzählen: von Eio und seinem Dorf Ai’oa, von dem Loch im Zaun, selbst von der wilden Pia. Er wird ein paar Tabellen aufstellen, dazu vielleicht ein paar Gleichungen, ein Buch über Psychologie zu Rate ziehen und alles wissenschaftlich erklären. Alles wird wieder ganz einfach sein.
Alles wird wieder sein, wie es war.
10
Ich lasse Alai schlafen, nehme die Schale mit der Passionsblume und gehe nach draußen, ohne auch nur einen Blick auf das Loch im Zaun zu werfen. Vor der Küche wachsen Helikonien und ich werfe die Blüte dahinter. Dort wird sie verrotten und zu Erde werden.
Dann mache ich mich auf die Suche nach Onkel Paolo. Er ist immer sehr beschäftigt und keiner weiß, wo er zu einer bestimmten Zeit ist, deshalb muss ich eine ganze Weile suchen. Schließlich finde ich ihn in meinem Labor. Er trägt einen langen weißen Kittel und Latexhandschuhe. Mutter ist bei ihm. In ihren Händen hält sie Roosevelt, die unsterbliche Ratte.
»Pia!« Onkel Paolo scheint überrascht – und nicht gerade froh, mich zu sehen. »Was willst du? Warum bist du hergekommen?«
Nach dieser Begrüßung zögere ich einen Augenblick und blicke verunsichert von ihm zu Mutter und dann zu Roosevelt.
»Kann es warten? Wir sind mitten in einem Experiment.«
»Mit Roosevelt?«
Seine linke Augenbraue zuckt nach oben. »Sieht so aus.«
»Kann ich helfen?« Schließlich wird so ziemlich jedes Experiment, das an Roosevelt durchgeführt wird, irgendwann auch an mir durchgeführt werden. Wir teilen ein Schicksal, Roosevelt die Ratte und ich.
»Ich halte das für keine gute…« Doch er hält inne und scheint es sich noch einmal zu überlegen. Dann meint er gedehnt: »Andererseits, vielleicht solltest du sogar. Schließlich wirst eines Tages du diese Tests durchführen. Es wird Zeit, dass du enger in den eigentlichen Prozess eingebunden wirst. Bücher und die Theorie bringen dich nur bis zu einem gewissen Punkt. Hol dir einen Laborkittel und Handschuhe.«
Mein Geständnis ist für den Augenblick vergessen. Ich stelle die Schale hin und laufe zu dem kleinen Metallschrank, in dem immer ein paar frisch gestärkte weiße Laborkittel liegen. Ich ziehe einen an, freue mich, dass die Ärmel nicht zu lang sind, und streife ein Paar quietschende Latexhandschuhe über.
»Wie verläuft das Experiment?«, erkundige ich mich, als ich zu Onkel Paolo und Mutter hinübergehe. Mutter hat mich, seit ich den Raum betreten habe, die ganze Zeit nur stirnrunzelnd angeschaut. Ich ignoriere ihre Miene.
»Möchtest du es erklären, Sylvia?« Er streckt eine Hand aus.
»Wir geben Roosevelt eine kleine Dosis Elysia.«
Mir läuft es eiskalt über den Rücken, obwohl in dem Raum mindestens 77° Fahrenheit sein müssen. Wie gewöhnlich rechnet mein Gehirn automatisch um: 77° Fahrenheit minus 32 mal 5/9 ergibt 25° Celsius. Ich schüttle den Kopf und schiebe die Zahlen beiseite. Ich will jetzt ganz bei der
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