Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)
lang davon ausgegangen, dass ich unsterblich sei. Und jetzt stelle ich plötzlich fest, dass ich doch sterben kann.
Doch wenn ich meine Augen schließe, sehe ich nicht Roosevelt vor mir, der langsam auf dem Untersuchungstisch stirbt. Ich sehe nicht die Spritze mit dem tödlichen Gift, die mir mein Leben schneller nehmen könnte, als sie es mir gab. Nicht einmal mich sehe ich, wie ich mich krümme und nach Luft schnappe. Damit müsste ich wohl rechnen, nach dem, was ich bei Roosevelt erlebt habe.
Stattdessen sehe ich Onkel Paolo vor mir und seine Augen, als er begreift, dass Roosevelt sterben wird. Und ich höre seinen Triumphschrei, kurz bevor es passierte. »Wir sind Götter, Pia. Wir haben dem Tod ein Schnippchen geschlagen.«
Aber das haben wir nicht. Er hat es nicht. Ob er jetzt denkt, sein gesamtes Lebenswerk sei umsonst gewesen? Es gibt doch sicher vieles, worauf er stolz sein kann. Ich bin schließlich noch immer unsterblich. Solange ich nicht so bescheuert bin und Elysia trinke, lebe ich ewig. Ich erschaffe eine Rasse von Unsterblichen, meine eigene Art, und der Traum von Dr. Falk und Onkel Paolo und mir wird sich erfüllen. Sobald die unsterbliche Rasse sich etabliert hat, können wir sämtliche Elysia-Pflanzen ausrotten. Dann kann der Tod uns wirklich nichts mehr anhaben. Wir leben immer weiter, pflanzen uns fort und unsere Zahl wächst, bis die Welt voll ist. Dann hören wir auf. Und leben. Und leben. Und leben.
Ich versuche mich auf diesen Gedanken zu konzentrieren, auf das Bild meiner unsterblichen Rasse, an deren Spitze ich stehe. Ein unsterblicher Junge an meiner Seite. Unsterbliche Freunde in meinem Alter. Doch immer wieder kommt das Bild von Onkel Paolos Gesicht dazwischen und ich sehe die wilde Verzweiflung in seinem Blick, als er versucht, Roosevelt von der Schwelle des Todes zurückzuholen.
Eigentlich hätte Onkel Paolo Klarheit in die Sache bringen und nicht alles noch undurchsichtiger machen sollen. All meine bisherigen Gewissheiten zerbröckeln angesichts dieser neuen Angst, einer Angst, die ich nie zuvor gekannt habe. Die Angst vor dem Mann, der mich erschaffen hat, der mir meinen Namen gegeben, mich aufgezogen hat…
Ich beschließe, noch einmal in den Dschungel zu gehen.
Und noch einmal. Und noch einmal. Und noch einmal.
Ich werde so lange in den Regenwald gehen, bis die Erinnerung an Onkel Paolos Augen im Moment von Roosevelts Tod ausgelöscht ist, weggewaschen von dem reinigenden Regen des Dschungels.
Eine Stunde nach Einbruch der Nacht bin ich auf der anderen Seite des Zauns.
11
Ich erschrecke, als Eio hinter einem Kapokbaum hervortritt. Ich kenne niemanden, der sich so heranschleichen kann, und es macht mich nervös.
»Du bist wiedergekommen«, stellt er fest und betrachtet mich von oben bis unten. Er bedenkt auch Alai mit einem langen Blick, den der Jaguar kühl erwidert. »Und dieses Mal nicht im Kleid.«
Ich trage ein schwarzes Top und eine Camouflage-Cargohose. Einen dunklen Regenmantel habe ich für alle Fälle auch mitgenommen. Es sind nur wenige Wolken am Himmel, aber das kann sich innerhalb von Minuten ändern.
»Natürlich. Ich habe es schließlich versprochen.« Ich erwähne nicht, dass ich noch vor wenigen Stunden fest entschlossen war, dieses Versprechen zu brechen.
»Ich dachte, du hättest Angst.«
»Hab ich nicht.«
Er taxiert mich skeptisch und ich mache es genauso. Er trägt dasselbe wie letzte Nacht. Vielleicht hat er keine andere Hose. Allerdings ist er heute mit Gesichtsbemalung erschienen: drei rote Streifen auf der Stirn, zwei weiße Punkte auf jeder Wange und einen blauen Strich senkrecht am Kinn.
»Was bedeutet deine Gesichtsbemalung?«
Er legt einen Finger auf die drei roten Streifen. »Die Spuren der Jaguartatze.« Sein Finger wandert zu den weißen Flecken. »Die Flecken im Fell des Jaguars.« Zum Schluss zeigt er auf sein Kinn. »Das Sehen.«
»Das Sehen?«
Er fährt die Striche in seinem Gesicht nach und macht dabei eine Kopfbewegung hinüber zu Alai. »Einen Jaguar zu sehen, bringt Glück.«
Ich schaue Alai an und frage mich, was sie in Little Cam sagen würden, wenn ich mir ebenfalls das Gesicht bemalte. Machst du einen auf Eingeborene, Pia?
»Ich zeige dir Ai’oa«, verkündet Eio, »falls du nicht zu viel Angst hast, kleine Wissenschaftlerin.«
»Ich bin noch keine Wissenschaftlerin«, wehre ich freundlich ab, »und ich habe keine Angst. Schlafen die anderen?«
»Nein. Sie erwarten dich.«
Sie erwarten mich? Ich spüre ein
Weitere Kostenlose Bücher