Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)
hat, darf man dies nicht verkennen. Das fremde Mädchen muss über einen mächtigen Zauber verfügen, dass die Geister sie ankündigen und der mächtige Jaguar sie respektiert.«
»Ich habe den Ruf gehört«, bestätigt Eio.
»Ich verfüge über keinen Zauber! Sag ihm, dass ich über keinen Zauber verfüge.« Ich bin unsterblich, klar, aber das hat nichts mit Zauberei zu tun, das ist Wissenschaft.
»Es ist nicht gut, einem Mann wie Kapukiri, der mit den Geistern redet, zu widersprechen«, meint Luri. »Ich werde das nicht übersetzen. Was er sagt, muss die Wahrheit sein. Wenn Eio Weitwanderer den Jaguar gehört, nach ihm Ausschau gehalten und dich gefunden hat, müssen die Geister wollen, dass du zu uns kommst.«
»Ich kann nicht bei euch bleiben. Ich muss zurück nach Little Cam.«
»Geh zurück oder bleib«, erwidert sie achselzuckend.
Kapukiri kommt näher. Er richtet den gebeugten Oberkörper auf und bringt sein Gesicht ganz nah an meines. Nur wenige Zentimeter sind dazwischen. Eigentlich erwarte ich, dass Alai zumindest mit einem Knurren reagiert, doch er beobachtet uns gelassen. Das überrascht mich. Ich versuche, instinktiv zurückzuweichen, doch die Ai’oaner bilden eine Mauer hinter mir. Ich kann nirgendwohin. Ich bin gezwungen, auf den verhutzelten Mann hinunterzuschauen und seinem durchdringenden Blick standzuhalten. Wonach sucht er? Nach meinem Zauber? Ich glaube nicht an die Geister und Zeichen der Eingeborenen – das wäre nicht wissenschaftlich –, aber es gibt keinen Zweifel daran, dass sie es ernst meinen. Ich nehme an, sie warten alle darauf, dass Kapukiri irgendeine Art von Ansage macht.
Plötzlich tritt der Medizinmann zurück. Sein Blick ist wild und er beginnt am ganzen Körper zu zittern, krampfartig, ruckhaft. Ich frage mich, ob er einen epileptischen Anfall hat. Dann zieht er eine kleine Kalebasse aus einer der Ranken um seinen Körper und schüttelt sie. Ein lautes Klappern ertönt. Er schüttelt sie über seinem Kopf, wobei er die Arme von rechts nach links bewegt und auf Höhe seiner Knie. Dabei stöhnt er und singt und rollt mit den Augen. Alai gibt neben mir ein seltsames Geräusch von sich, halb Grollen und halb Winseln, leise und tief.
»Was ist los mit ihm?«, frage ich. »Braucht er Hilfe?«
Luri schüttelt den Kopf, legt eine Hand auf meinen Arm und bedeutet mir, still zu sein. Die anderen Ai’oaner beobachten ihren Medizinmann gebannt. Als er endlich aufhört zu stöhnen und zu zittern, legt er beide Hände um mein Gesicht. Ich versuche nicht zurückzuweichen, warte aber nervös, was jetzt kommt.
»Der Weitwanderer hat den Ruf gehört«, verkündet er und Luri übersetzt hastig, »und ich, Kapukiri, sehe das Mal in den Augen des fremden Mädchens.«
»Welches Mal?«, frage ich, doch Luri schüttelt nur den Kopf. Sei still!
Kapukiri fährt fort: »Ich sehe das Zeichen von Jaguar, Mantis und Mond. Dieses fremde Mädchen ist…« Luri kommt beim Übersetzen ins Stocken. Mit großen Augen blickt sie mich gebannt an. » Tapumiri.«
Ein Raunen geht durch die Menge.
»Jaguar, Mantis, Mond«, flüstert Eio. »Die waren, aber nicht mehr sind. Tapumiri.«
Kapukiri nimmt die Hände von meinem Gesicht und ergreift meine Handgelenke. Er dreht sie so, dass die blassblauen, durch die Haut schimmernden Venen oben liegen, und fährt mit seinen knotigen Fingern darüber. Seine Berührung ist so zart wie die eines Schmetterlings.
»In diesen Adern fließen die Tränen von Miuas«, wispert er.
Schweigen legt sich über Ai’oa. Ein Frösteln überkommt mich. Ich schiebe es auf die kühle Nachtluft. Kapukiris Worte bedeuten für diese Menschen etwas, etwas, das sie vor Ehrfurcht oder Angst erstarren lässt. Ich habe keine Ahnung, was es ist. Sie schauen mich ernst und mit großen Augen an und ich weiß nicht, ob Ablehnung oder Verehrung in ihnen liegt. Unbehaglich versuche ich den Blicken auszuweichen. Auch Luri ist in der Menge untergetaucht.
»Jaguar, Mantis, Mond«, flüstern sie auf Ai’oanisch. Die Worte haben sich bereits in mein Gedächtnis eingebrannt. »Die Tapumiri , die nicht mehr sind. Miuas Tränen fließen wieder. Jaguar, Mantis, Mond.«
Anfangs geht das Gemurmel noch durcheinander, doch nach und nach verschmilzt es zu einer Stimme, zu einem einheitlichen Singsang, bei dem mir das Blut in den Adern gefriert. Ich weiß nicht, was es bedeutet und was es mit mir zu tun hat, aber ich habe das Gefühl, ich verpasse etwas Großes und Bedeutsames.
»Eio«, frage ich
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