Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)
wieder tanzen, und obwohl ich mich zunächst wehre, zieht er mich auf die Beine. Ich versuche mich im Tanz der Ai’oaner zu verlieren. Wir wirbeln herum und schlagen Trommeln und ein zahmer Affe springt von Schulter zu Schulter, kreischt und bombardiert den genervten Alai mit Beeren.
Aber egal, wie schnell und wild ich tanze, ich bekomme das Wort nicht aus meinem Kopf.
Wir tanzen ein paar Runden, dann zieht Eio mich aus dem Kreis und ein Stück vom Dorf weg. Alai folgt uns, froh, dem kleinen Affen zu entkommen. Wir sind noch in Sichtweite der Tänzer, doch hier herrschen die Geräusche des Dschungels vor und Ai’oa schiebt sich in den Hintergrund. Der Schein der Feuer reicht nur noch, um Eios Nase, Stirn und Wangenknochen zu beleuchten. Lichtpünktchen tanzen in seinen Augen. Sie sehen aus wie Glühwürmchen in einem Glas.
»Komm, ich möchte dir etwas zeigen.«
»Was?«
»Sei still. Wenn sie uns hören, folgen sie uns.« Er nimmt meine Hand und zieht mich in den Dschungel.
»Aber wohin –«
Er bleibt stehen, dreht sich zu mir um und legt sacht einen Finger auf meine Lippen. »Pst! Du redest zu viel, Pia.«
Sein Gesicht ist nur Zentimeter von meinem entfernt. Ein kleines, verschmitztes Lächeln umspielt seine Lippen. Ihm plötzlich so nah zu sein, lässt mich fast das Atmen vergessen.
Ich nicke, er nimmt seinen Finger von meinen Lippen, ergreift wieder meine Hand und zieht mich weiter.
Wie Funken schießen Fragen durch meinen Kopf – Wie weit? Was ist es? Warum hält er immer noch meine Hand? –, doch ich stelle sie nicht laut, sondern lasse mich stumm und mit klopfendem Herzen durch den Dschungel ziehen.
Das Gelände fällt ab. Wir entfernen uns immer weiter von Ai’oa und Little Cam. Wir stapfen durch ein Dickicht aus Farnsträuchern, die mir bis zur Taille reichen. Hoch droben folgt uns der Ruf des Tagschläfers – dem Pfeifen eines Menschen gespenstisch ähnlich. Er beginnt hoch und weich, dann folgen acht immer tiefer werdende Töne. Ich kann jeden einzelnen unterscheiden. Der Tagschläfer ist nur einer der vielen Vögel, die in dieser Nacht singen. Die Bäume scheinen fast zu vibrieren von ihrem Gesang.
Wir sind knapp fünf Minuten unterwegs, als Eio langsamer geht. Wir halten uns weiter an den Händen. Unsere Handflächen sind feucht, doch keiner lässt los.
Als wir aus einer Gruppe dicht stehender Palmen treten, bleibt mir vor Staunen beinahe die Luft weg. Eio hat mich zu einem Fluss geführt. Dem Fluss. Das muss der Little Mississip sein.
Das Wasser ist ruhig und still. Wären nicht die sanften Wellen, die am Ufer entlangstreichen, würde ich nicht einmal sehen, dass es fließt. Ich schaue auf und sehe mehr Himmel als je zuvor, da der Fluss so breit ist, dass das Blätterdach sich darüber nicht schließen kann. Der Nachthimmel ist mit Sternen übersät. Auch der Fluss ist voll davon, Zehntausende Glitzerpünktchen spiegeln sich auf seiner blaugrauen Oberfläche.
Es ist niemand da außer uns. Außer uns und den Sternen und dem Fluss. Wir gehen ans Ufer, bis das Wasser fast über unsere Füße leckt. Alai kauert sich hin und trinkt.
»Ich habe noch nie…« Ich halte inne und schüttle den Kopf. Die Worte zerfallen in meinem Mund. Es ist zu viel. Was ich sehe, lässt sich nicht in Worte fassen. Besser, ich versuche es erst gar nicht. Meine Unfähigkeit, mich auszudrücken, könnte den Zauber schmälern.
Eio betrachtet mich neugierig. Ich sehe ihm an, dass meine Reaktion ihn überrascht. »Du warst wirklich noch nie außerhalb des Zaunes, stimmt’s?«
Wieder schüttle ich den Kopf. Er streicht mit den Fingern über mein Gesicht und wischt Tränen ab. Ich wusste nicht einmal, dass sie da waren. »Es ist wunderschön hier«, flüstere ich. »Es ist… es ist fast zu viel. Was ist da unten?« Ich zeige auf die Flussbiegung. »Wo endet er?«
»Im Meer«, antwortet er. »Und hinter der Biegung liegt die Stadt. Ich war schon dort.«
»Wirklich?« Ich bekomme große Augen. »Wie ist sie?«
Er zuckt mit den Schultern. »Ich bin nicht hineingegangen, nur bis zum Rand, Papi hat gesagt, ich soll hingehen. Also hab ich es getan, hab sie gesehen und bin zurückgekehrt.«
»Warum wollte er, dass du dorthin gehst?«
»Er sagte, es sei Teil eines Planes. Mehr wollte er nicht verraten. Ich war froh, dass ich es getan habe. Kein Ai’oaner ist je so weit gegangen. Nach meiner Rückkehr nannten sie mich Eio Weitwanderer.«
»Ein… hübscher Name«, bemerke ich, da er ziemlich stolz darauf zu sein
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