Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)
scheint.
»Die Drei wollten nicht, dass ich gehe, aber im Zweifel muss man zuerst dem Vater gehorchen. Häuptling Burako fürchtete, es sei ein Trick, um mich zu einem Fremden zu machen, wie mein Papi einer ist. Mein ganzes Leben lang machen sie sich schon Sorgen deshalb, da ich mehr Ähnlichkeit mit den Fremden habe als mit den Ai’oanern. Und es gab ja auch immer wieder Ai’oaner, die das Dorf verließen und nie zurückkamen. Die Wissenschaftler versprachen ihnen, sie in die Städte zu bringen und dass sie in Flugzeugen und Zügen reisen könnten. Sie haben sich überreden lassen und Ai’oa den Rücken gekehrt und sind in die Welt da draußen verschwunden. Ich kenne keinen Ai’oaner, der das getan hat. Sie verließen das Dorf vor langer Zeit, bevor ich geboren wurde. Aber Burako fürchtete, dass andere meinem Beispiel folgen würden, wenn ich ginge, und das Dorf wieder viele Bewohner verlieren würde. In Ai’oa darf ich nicht über meine Reise oder über die Stadt reden. Burako will, dass ich ganz und gar Ai’oaner bin.« Er wirft einen Kieselstein in den Fluss. Er hüpft über die Oberfläche und schafft es fast bis ans andere Ufer. »Aber er kann Regeln festlegen, so viele er will, ich bleibe trotzdem ein halber Karaíba.«
»Verstehe.« Eio ist in seinem eigenen Dorf ein Außenseiter wie ich in meinem. »Wo ist deine Mutter?«
»Sie starb, als ich noch klein war. Ich erinnere mich kaum an sie. Achiri wurde meine Mutter. Diese Stelle nimmt sie für alle Mutterlosen in Ai’oa ein. Es ist ihre Aufgabe als Dritte der Drei.«
»Sie ist erstaunlich«, flüstere ich. »Deine Welt. Sie liegt so dicht neben meiner und ist doch so anders.«
Er schaut hinauf zu den Sternen. »Es ist falsch, Pia. Sie sollten dich nicht wie einen Vogel gefangen halten. Du hättest das hier schon längst sehen sollen.« Sein Blick wandert zurück zum Fluss. »Wir nennen ihn Ymbyja. Sternenwasser.«
»Ymbyja«, wiederhole ich leise. Das Wort werde ich von jetzt an nie mehr vergessen.
»Schau, da.« Eio nimmt meine Hand und hebt sie zum Himmel hinauf. »Siehst du das? Diese Gruppe von Sternen?«
Ich nicke.
»Wir nennen sie den Jäger. Und das dort« – er führt meine Hand ein Stück weiter über den Himmel, bis sie auf eine andere Ansammlung von Sternen zeigt – »ist das Gürteltier.« Er zieht meine Hand herunter, lässt sie aber nicht los. »In Ai’oa erzählt man sich die Geschichte, wie der Jäger das Gürteltier über den Himmel jagte, bis das Gürteltier sich in einem Loch versteckte. Als der Jäger in dem Loch stocherte, damit es herauskommt, stieß er zu tief und durchbohrte den Himmelsboden. Er fiel auf die Erde, wo er den Fluss und die Bäume fand. Da führte er seinen ganzen Stamm hinunter auf die Erde und sie wurden die ersten Menschen.«
Nicht gerade eine wissenschaftliche Erklärung für den Ursprung der Menschheit, doch hier draußen im nächtlichen Dschungel unter dem Sternenhimmel klingt die Geschichte magisch und alles andere als lächerlich. Onkel Paolo würde vielleicht darüber lachen, doch in mir ist plötzlich eine geheimnisvolle Sehnsucht, als wollte ein Teil von mir gern glauben, dass sie wahr ist. »Und der Jäger war ein Ai’oaner? Glaubt ihr, dass ihr von diesen ersten Menschen abstammt?«
»Natürlich nicht.« Er lacht. »Das ist lange her. Und wer weiß, ob die Geschichte überhaupt stimmt. Aber irgendwo muss es angefangen haben, oder? Das bedeutet, dass jeder auf dieser Erde von irgendwelchen Ersten abstammt und wir alle irgendwie miteinander verbunden sind, weil wir ganz am Anfang ein Volk waren. Ein Stamm.« Er schaut mich von der Seite an und lächelt. »Du siehst also, so verschieden sind wir gar nicht.«
»Wenn man es so betrachtet«, gebe ich zu.
»Wir leben unterschiedliche Leben«, fährt er fort, »aber wir sind alle Menschen. Unsere Wurzeln liegen in derselben Erde.«
Ich blicke ihn an. Aber was ist, wenn man nicht durch und durch Mensch ist?
Wir sitzen noch eine ganze Weile am Ufer und schauen vom Fluss zum Himmel und vom Himmel zum Fluss. Ich glaube, Eio versucht es so zu sehen, wie ich es sehe, aber ich fürchte, er kann es nicht. Ich habe einmal von einem Zustand gehört, den man Reizüberflutung nennt. Ich glaube, dass ich mich gerade in diesem Zustand befinde.
Doch während ich von all den neuen Eindrücken überwältigt werde, spüre ich gleichzeitig, wie mich eine warme, friedvolle Ruhe durchströmt, so als käme ich schon mein ganzes Leben lang hierher. Als seien
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