Die einzige Wahrheit
Allerdings mit einer Einschränkung: Diese Person ist nicht Katie Fisher. Nein, diese Person bin ich.« Ich hob die Hand und winkte gut gelaunt. »Jawohl, schuldig im Sinne der Anklage. Ich bin eine Lügnerin, und sogar eine ziemlich gute, wenn ich das sagen darf. Sogar so gut, daß ich eine recht erfolgreiche Anwältin geworden bin. Und obwohl ich dem Bezirksstaatsanwalt nichts unterstellen will, würde ich wetten, daß auch er schon einige Male die Tatsachen ein bißchen verdreht hat.« Ich legte die Stirn in Falten und ließ den Blick über die Geschworenen wandern. »Sie alle kennen die entsprechenden Witze – über Anwälte kann ich Ihnen nichts Neues erzählen. Wir lügen nicht nur gut, wir werden auch noch gut dafür bezahlt.«
Ich lehnte mich gegen das Geländer vor der Geschworenenbank. »Katie Fisher hingegen lügt nicht. Woher ich das mit absoluter Sicherheit weiß? Tja, weil ich zu ihrer Verteidigung heute eigentlich vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit ins Feld führen wollte. Ich hatte Sachverständige, die Ihnen hier im Zeugenstand erklärt hätten, daß Katie an dem Morgen, als sie entband, nicht wußte, was sie tat. Aber Katie hat das nicht zugelassen. Sie sagte, sie sei nicht unzurechnungsfähig gewesen, und sie habe ihr Kind nicht ermordet. Und selbst wenn sie damit eine Verurteilung riskiere, wolle sie, daß Sie, die Geschworenen, das erführen.«
Ich zuckte die Achseln. »Und jetzt stehe ich hier, eine Anwältin, bewaffnet mit einer ganz neuen Waffe – der Wahrheit. Das ist alles, was ich habe, um den Anschuldigungen der Anklagevertretung entgegenzutreten: die Wahrheit und möglicherweise einen klareren Blick. Nichts von dem, was Mr. Callahan Ihnen vorlegen wird, ist ein schlüssiger Beweis, und das hat seinen Grund – Katie Fisher hat ihr Neugeborenes nicht getötet. Ich wohne seit mehreren Monaten mit ihr und ihrer Familie unter einem Dach, und daher weiß ich etwas, das Mr. Callahan nicht wissen kann – daß Katie Fisher durch und durch amisch ist. Man verhält sich nicht amisch, wie Mr. Callahan das unterstellt hat. Man lebt amisch. Man ist amisch. Im Verlauf dieses Prozesses werden sie diese komplexe, friedliebende Gemeinschaft so verstehen lernen, wie ich das getan habe. Vielleicht würde ein junges Mädchen in der Großstadt ein Kind gebären und es anschließend in die Toilette stopfen, aber nicht eine amische Frau. Nicht Katie Fisher.
Wenden wir uns nun Mr. Callahans Ausführungen im einzelnen zu. Ist Katie wiederholt heimlich in eine Universitätsstadt gefahren? Ja, das ist sie – Sie sehen, ich sage Ihnen die Wahrheit. Aber der Anklagevertreter hat etwas ausgelassen, nämlich den Grund, warum sie dorthin gefahren ist. Katies Bruder, ihr einziges noch lebendes Geschwister, hat die amische Gemeinde verlassen und studiert. Ihr Vater, durch diese Entscheidung tief gekränkt, hat jeden Kontakt zu seinem Sohn abgebrochen. Aber Familie bedeutet Katie nach wie vor alles, wie auch den meisten Amischen, und sie vermißte ihren Bruder so sehr, daß sie bereit war, viel aufs Spiel zu setzen, um ihn zu besuchen. Sie sehen, Katie hat keine Lüge gelebt. Sie hat eine Liebe gepflegt.
Mr. Callahan hat gleichfalls unterstellt, daß Katie die uneheliche Schwangerschaft verbergen mußte, da sie sonst aus ihrer Glaubensgemeinschaft ausgeschlossen worden wäre. Sie werden jedoch feststellen, daß die Amischen vergeben können. Selbst eine uneheliche Schwangerschaft wäre akzeptiert worden, und das Kind wäre mit mehr Liebe und Zuwendung aufgewachsen als in vielen nichtamischen Familien.«
Ich sah Katie an, die mich mit großen, leuchtenden Augen betrachtete. »Und damit komme ich zu Mr. Callahans letzter Behauptung: Warum hätte Katie Fisher also ihr eigenes Kind töten sollen? Die Antwort, verehrte Geschworenen, ist einfach. Sie hat es nicht getan .
Die Richterin wird Ihnen erklären, daß Sie, wenn Sie Katie schuldig sprechen wollen, keine berechtigten Zweifel an der Beweisführung der Anklagevertretung hegen dürfen. Wenn dieser Prozeß zu Ende geht, werden Sie jedoch mehr als nur einen berechtigten Zweifel haben, Sie werden eine ganze Reihe von Zweifeln haben. Sie werden sehen, daß die Anklagevertretung nicht beweisen kann, daß Katie ihr Kind getötet hat. Sie kann Ihnen keinen Augenzeugen liefern. Sie hat nur Spekulationen und fragwürdige Beweise.
Ich andererseits werde Ihnen zeigen, daß der Tod dieses Babys viele verschiedene Ursachen haben kann.« Ich ging zu Katie, damit die
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