Die einzige Wahrheit
ihr her. »Nehmen Sie Platz.« Ihre Augen glitten über den Zuschauerraum und verengten sich, als sie die dicht gedrängte Gruppe von Reportern erblickte. »Bevor wir anfangen, möchte ich die Pressevertreter daran erinnern, daß der Einsatz von Foto- und Videokameras in diesem Gerichtssaal verboten ist, und wenn auch nur einer gegen diese Anordnung verstößt, schließe ich Sie allesamt vom weiteren Verlauf des Prozesses aus.«
Sie wandte sich Katie zu, musterte sie schweigend, bevor sie den Staatsanwalt ansah. »Wenn die Anklagevertretung bereit ist, können wir anfangen.«
George Callahan schlenderte auf die Geschworenenbank zu, als wäre er mit jedem einzelnen von ihnen gut befreundet. »Ich weiß, was Sie denken«, sagte er. »Das hier ist ein Mordprozeß – wo ist denn dann der Angeklagte? Dieses nette amische Mädchen mit Schürze und weißem Käppchen kann doch keiner Fliege was zuleide tun und erst recht keinem anderen menschlichen Wesen.« Er schüttelte den Kopf. »Sie alle wohnen in Lancaster County. Sie alle sehen die Amischen in ihren Kutschen und hinter ihren Obst- und Gemüseständen. Auch wenn sie sonst nichts über sie wissen, so ist Ihnen zumindest bewußt, daß es sich um eine überaus fromme religiöse Gemeinschaft handelt, deren Mitglieder unter sich bleiben und ein unauffälliges Leben führen. Mal ehrlich – wann haben Sie zuletzt gehört, daß ein Amischer vor Gericht stand? Ich kann Ihnen sagen, wann das war: letztes Jahr. Als die idyllische Blase des amischen Lebens von zwei ihrer Jugendlichen zum Platzen gebracht wurde, die mit Kokain handelten. Und heute wieder, wenn Sie erfahren, wie diese junge Frau ihr eigenes Neugeborenes kaltblütig ermordet hat.«
Er fuhr mit der Hand über das Geländer vor der Geschworenenbank. »Entsetzlich, nicht? Kaum vorstellbar, daß eine Mutter ihr eigen Fleisch und Blut tötet, schon gar nicht eine so unschuldig wirkende junge Frau wie die, die dort drüben sitzt. Lassen Sie mich Ihre Zweifel zerstreuen. Im Verlauf dieses Prozesses werden Sie erfahren, daß die Angeklagte nicht unschuldig ist – daß sie in Wahrheit eine überführte Lügnerin ist. Sechs Jahre lang hat sie sich immer wieder von der Farm ihrer Eltern geschlichen, um ganze Wochenenden auf einem College-Campus zu verbringen, wo sie Jeans und enge Pullover tragen und Partys feiern konnte wie jeder andere Teenager auch. Das hat sie vertuscht – ebenso wie sie vertuscht hat, daß sie an einem dieser ausschweifenden Wochenenden schwanger wurde; ebenso wie sie den Mord vertuschen wollte.«
Er drehte sich zu Katie um, durchbohrte sie mit seinem Blick.
»Was ist nun also die Wahrheit? Die Wahrheit ist, daß die Angeklagte am zehnten Juli kurz nach zwei Uhr morgens mit Wehen erwachte. Die Wahrheit ist, daß sie aufstand, auf Zehenspitzen in den Stall schlich und in aller Stille einen kleinen Jungen zur Welt brachte. Die Wahrheit ist, daß sie wußte, falls dieses Baby entdeckt würde, wäre das Leben, das sie bislang geführt hatte, vorbei. Sie würde aus ihrem Elternhaus verstoßen, aus ihrer Gemeinde ausgeschlossen. Und die Wahrheit ist, daß sie tat, was sie tun mußte, um ihre Lebenslüge aufrechtzuerhalten – sie hat kaltblütig und vorsätzlich ihr eigenes Kind getötet.«
George riß die Augen von Katie los und wandte sich wieder den Geschworenen zu. »Wenn Sie die Angeklagte ansehen, lassen Sie sich nicht von ihrer malerischen Tracht in die Irre führen. Darauf legt sie es nämlich an. Sehen Sie statt dessen eine Frau, die ein weinendes Neugeborenes erstickt. Wenn die Angeklagte spricht, hören Sie genau zu. Aber vergessen Sie nicht, daß man ihr nicht trauen kann. Diese vermeintlich harmlose kleine Amische hat eine verbotene Schwangerschaft geheimgehalten, ein Neugeborenes mit bloßen Händen ermordet und die ganze Zeit über ihre Umgebung getäuscht. Lassen Sie nicht zu, daß sie das gleiche mit Ihnen macht.«
Auf der Geschworenenbank saßen acht Frauen und vier Männer, und ich war mir nicht sicher, ob das für uns positiv oder negativ war. Frauen hatten vermutlich mehr Verständnis für eine unverheiratete junge Frau – aber auch mehr Verachtung für eine Mutter, die ihr Kind tötet.
Ich drückte einmal kurz Katies zittrige Hand unter dem Tisch der Verteidigung und erhob mich. »Mr. Callahan möchte Sie glauben machen, daß eine bestimmte Person in diesem Gerichtssaal sich besonders gut darauf versteht, nicht die Wahrheit zu sagen. Und wissen Sie was? Er hat recht.
Weitere Kostenlose Bücher