Die einzige Wahrheit
getauft wird, gelobt man, nach diesen Regeln zu leben.« Er räusperte sich. »Ich habe damals als Schreinerlehrling gearbeitet, in Gap Bücherregale für einen Englischlehrer gebaut. Er bemerkte eines Tages, wie ich in seinen Büchern blätterte, und hat mir einige geliehen. Er hat in mir den Wunsch geweckt weiterzulernen. Lange habe ich meine Bücher vor meinen Eltern verborgen gehalten, aber als schließlich für mich feststand, daß ich mich an einem College bewerben wollte, wußte ich, daß ich nicht länger amisch sein könnte.«
»Und was geschah dann?«
»Die amische Gemeinde hat mich vor die Wahl gestellt: meine College-Pläne aufgeben oder den Glauben ablegen.«
»Das klingt hart.«
»Ist es aber nicht«, sagte Jacob. »Sogar jetzt könnte ich noch zurückkommen und vor der Gemeinde ein Bekenntnis ablegen und würde mit offenen Armen wieder aufgenommen.«
»Aber Sie können die Dinge, die sie auf dem College gelernt haben, nicht einfach ausradieren, nicht wahr?«
»Das ist nicht der springende Punkt. Ich müßte mich wieder Bedingungen unterwerfen, die von der Gruppe festgelegt wurden, statt nach meinen eigenen Vorstellungen zu leben.«
»Was machen Sie zur Zeit, Jacob?«
»Ich promoviere an der Penn State in Englisch.«
»Ihre Eltern müssen sehr stolz auf Sie sein«, sagte Ellie.
Jacob lächelte schwach. »Ich weiß nicht. Wissen Sie, in der englischen Welt geben andere Dinge Anlaß zu Lob als in der Welt der Amischen. Als Amischer möchte man gar keinen Anlaß zu Lob geben. Man möchte mit der Gemeinde verschmelzen, ein gutes christliches Leben führen, ohne auf sich aufmerksam zu machen. Insofern, nein, Ms. Hathaway, ich würde nicht sagen, daß meine Eltern stolz auf mich sind. Sie sind verwundert über die Entscheidung, die ich getroffen habe.«
»Sehen Sie Ihre Eltern noch?«
Jacob warf seiner Schwester einen Blick zu. »Ich habe meine Eltern erst vor wenigen Tagen zum ersten Mal seit sechs Jahren wiedergesehen. Ich war auf ihrer Farm, obwohl mein Vater mich verstoßen hat.«
Ellie zog die Augenbrauen hoch. »Wenn man die amische Gemeinde verläßt, darf man mit Amischen keinen Kontakt mehr haben?«
»Nein, das ist eher die Ausnahme. Mit jemandem Umgang zu pflegen, der aus der Gemeinde ausgeschlossen wurde, kann natürlich für alle anderen unangenehm werden, erst recht, wenn man im selben Haus wohnt, wegen der Meinding – des Banns. Eine der Regeln, von denen ich gesprochen habe, besagt, daß die Mitglieder der Gemeinde denen aus dem Weg gehen sollen, die gegen die Regeln verstoßen haben. Wer gesündigt hat, wird eine Weile unter den Bann gestellt, und während dieser Zeit dürfen andere Amische weder mit dieser Person gemeinsam essen noch Geschäfte machen, noch sexuelle Beziehungen haben.«
»Das heißt also, ein Ehemann müßte sich von seiner Frau fernhalten? Und eine Mutter von ihrem Kind?«
»Strenggenommen ja. Aber als ich noch amisch war, kannte ich einen verheirateten Mann, der ein Auto hatte und deshalb unter den Bann gestellt wurde. Er lebte weiter mit seiner Frau zusammen, die Mitglied der Gemeinde war – und obwohl sie sich eigentlich von ihm hätte fernhalten müssen, haben sie trotzdem sieben Kinder bekommen, die alle amisch getauft wurden, als es an der Zeit war. Im Grunde entscheiden die Beteiligten also selbst, wie weit sie zueinander Distanz halten.«
»Warum hat Ihr Vater Sie denn dann verstoßen?« fragte Ellie.
»Darüber habe ich viel nachgedacht, Ms. Hathaway. Ich würde sagen, er hat es aus einem Gefühl des persönlichen Scheiterns heraus getan, als ob es sein Fehler wäre, daß ich nicht in seine Fußstapfen treten wollte. Und ich denke, er hatte schreckliche Angst, daß ich Katie, wenn sie weiter regelmäßig mit mir zu tun gehabt hätte, verderben würde, indem ich sie mit der Welt der Englischen zusammenbrächte.«
»Schildern Sie uns bitte Ihr Verhältnis zu Ihrer Schwester.«
Jacob schmunzelte. »Na ja, ich denke nicht, daß es sich großartig von dem Verhältnis unterscheidet, das andere Geschwister zueinander haben. Manchmal war sie meine beste Freundin, und dann wieder war sie eine absolute Nervensäge. Sie ist einige Jahre jünger als ich, daher hatte ich irgendwann die Verantwortung übernommen, auf sie aufzupassen und ihr beizubringen, wie gewisse Arbeiten auf der Farm verrichtet wurden.«
»Standen Sie sich nahe?«
»Sehr nahe. Für Amische ist die Familie alles. Man nimmt nicht nur jede Mahlzeit zusammen ein – man arbeitet auch
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